„Einen Meter Abstand habe ich gesagt!“, donnert Onmma. Zum ersten Mal ist es nicht Ruhe, die er ausstrahlt.
„Jaja, natürlich. Dann musst du jedoch ihre Füße behandeln. Sonst darf ich sie wirklich die ganze Zeit über tragen. Mir soll es recht sein.“ Ein herausforderndes Lachen liegt in seiner Stimme.
„Also gut, behandle ihre Füße und dann hältst du zwei Meter Abstand von ihr!“, brummt Onmma.
„Ich werde schon nicht über sie herfallen, wenn sie es nicht will“, erwidert Kirril, sieht mich dabei lächelnd an und zwinkert mir zu.
Ich schrecke zurück. Sein Lächeln hat etwas schmerzhaft Vertrautes.
Seinen Grübchen verschwinden, als er mir in die Augen sieht. „Entschuldige! Ich wollte dir keine Angst machen. Ich finde dich hübsch, aber ich werde mich benehmen. Ehrenwort! Ich will dir nur helfen.“
Ich nicke wortlos.
Kirril steht auf, holt eine Schüssel mit Wasser, Pflaster und Verbände. Er wäscht meine geschundenen Fußsohlen, trocknet sie vorsichtig ab, reibt eine Salbe darauf und verbindet die wunden Stellen. Dann zieht er sanft ein frisches Paar Socken über meine Füße.
„Danke“, murmele ich und starre auf seine großen, warmen Hände, die noch um meine Fesseln liegen. Bilde ich es mir nur ein oder zieht sein Daumen sanfte Kreise auf meiner Haut? Ich blicke verwirrt hoch zu ihm, starre in seine Augen. Ein sanftes Feuer brennt in ihnen, sie blicken in mich, suchen. Doch nach was? Die Stellen, die er berührt werden warm, brennen. Ich wünschte … ich wünschte …
Cailans Blick, in dem eine ähnliche Flamme gebrannt hat, taucht vor meinem inneren Auge auf und ich zucke zurück. Sofort lässt Kirril mein Bein los und ich verstecke mich unter der Decke, rolle mich zusammen und mache mich klein.
Ich kneife meine Lider fest zusammen und doch sehe ich brennende Augen mal hellblau wie der Himmel, mal schwarz, wie eine sternenlose Nacht. Mein Herz klopft schneller und ich versuche es zu beruhigen, lenke mich ab und denke über die heutigen Begebenheiten nach. Mein Gehirn dreht sich in alle Richtungen und ich versuche das Gehörte zu verdauen. Steht es wirklich so schlimm um die Menschheit? Sind wir alle gehirngewaschen?
Meine Gedanken kreisen um sich selbst und bleiben bei einer Frage hängen: Wie lange kann ich hier bleiben, ohne jemanden in Gefahr zu bringen? Wärme fährt in meine Glieder, breitet sich von meinen pochenden Füßen über meine Beine, meinen Bauch bis zu meiner Brust aus. Sie erreicht meine Wangen und bevor ich eine Antwort gefunden habe, hat sie mich eingelullt und ich drifte weg.
Ein seltsamer Geruch weckt mich und ich schieße hoch. Wo bin ich? Schmerz durchzuckt meine Schulter und es fällt mir wieder ein. Der Fall, die Jagd, der Sturz und die Männer. Doch in dem Raum mit dem Ofen ist niemand. Ich richte mich auf, suche nach meinen Schuhen und schlüpfe hinein. Meine Füße schmerzen, meine Schulter auch, mein ganzer Körper schreit und lässt sich nur schwer bewegen. Ein Wort fällt mir ein: Muskelkater. Ein seltsamer Klang und doch bin ich mir sicher, dass es passt. Die ungewohnte Bewegung auf der Flucht hat meine Muskeln ermüdet.
Langsam und steif wie ein Roboter suche ich eine Tür und finde den Weg nach draußen, bleibe jedoch wie angewurzelt stehen. Zwölf nackte Männer stehen um Eimer gefüllt mit Wasser und schrubben sich sauber. Meine Augen fahren geweitet von nackten Waden hoch zu nackten Oberkörpern und springen zurück zwischen die Beine. Meine Wangen brennen, aus einem mir unerfindlichen Grund entspringt ein schriller Schrei meiner Kehle. Alle Augen richten sich auf mich und ich drehe ihnen den Rücken zu, stammle: „Tu … tuut … tut mir leid.“
Ich muss den Drang, mich wieder umzudrehen und weiter zu starren, unterdrücken. Warum will ich wieder hinsehen?
„Die feine Dame tut so, als hätte sie noch nie einen nackten Mann gesehen!“, ruft jemand.
„Vielleicht haben wir hier eine Jungfrau“, fügt ein anderer hinzu und lacht.
Das Brennen in meinen Wangen kühlt ab. Das, was ich jetzt als Scham erkenne, stirbt bei den Worten, die ich weder bestätigen noch abstreiten kann. Ich habe heute zum ersten Mal einen nackten Mann gesehen, doch ich weiß nicht, ob dieser Körper, der mir immer noch fremd ist, der sich an mehr erinnert als mein Geist, noch jungfräulich ist.
Ich erinnere mich nicht an mein erstes Mal.
Ich erinnere mich an so viele erste Male nicht.
Tränen quellen mir aus den Augen, ich kann es nicht verhindern. Also eile ich zurück in den Raum mit dem Ofen. Es ist kein Versteck, es ist kein Zuhause. Ich will von der Welt nicht in meiner Schwäche gesehen werden und ziehe die Decke über den Kopf, sitze unbeweglich da und versuche eins zu werden mit dem rauen Stoff. Ich höre Schritte und wünschte, ich wäre Luft.
„Es tut mir leid. Die anderen wollten dich sicher nicht erschrecken. Sie … wir sind es nicht gewohnt, eine Frau um uns zu haben. Wir hätten … dich warnen sollen oder uns wo anders waschen. Ich hoffe, wir haben dich nicht für immer für die Männerwelt verdorben.“
Ich erkenne Kirrils Stimme und wünsche mir, er würde einfach verschwinden und mich mit meinem Trauma alleine lassen.
„Hast du Hunger? Ich habe Frühstück mitgebracht.“
Mein Magen antwortet an meiner Stelle und ich strecke vorsichtig die Nase unter der Decke hervor. Der Geruch der mich geweckt hat! Langsam ziehe ich die Decke über den Kopf, blicke in Kirrils leuchtende Augen, die so voller Emotionen sind, dass es mich fast erschlägt.
Seine Grübchen, kleine Krater rechts und links in seinen Wangen, verleihen ihm etwas Spitzbübisches. Er hält mir einen Holzteller hin. Ein runder, gelber Klecks ist von Weiß umgeben. Ich ziehe den Duft erneut durch die Nase und frage schließlich: „Ist das … ein gebratenes Ei?“
Kirril nickt lächelnd. „Wir halten hier ein paar Hühner und Ziegen. Käse, Milch und Eier sind also immer frisch und griffbereit. Alles andere, was wir zum Leben brauchen, holen wir abwechselnd in der nächsten Stadt. Es ist ein weiter Weg und wir müssen immer horrende Summen zahlen, sonst verkaufen uns die Einheimischen nichts. Es ist für sie ein Risiko mit uns Geschäfte zu machen. Sollte Cherub Matthew davon erfahren … sagen wir, es hätte Konsequenzen.“
Kirrils Worte enthalten so viele Informationen, dass ich sie nicht sofort verdauen kann. Außerdem gehe ich vollkommen in meinem Hunger auf, greife gierig nach dem Teller, packe das Ei mit der Hand, rolle es zusammen und stopfe es mir in den Mund. Es ist noch heiß, doch der Geschmack ist einmalig. Ich schließe die Augen und kaue ganz langsam. Der Hunger ist in den Hintergrund getreten und ich gehe auf in der Erfahrung.
Als alles von meinem Mund in den Magen gewandert ist, schwelge ich noch einen Moment länger in der Erinnerung, genieße das Ei noch einmal in Gedanken und erfreue mich daran, mich zu erinnern. Kirril lächelt mich verschmitzt an und sagt: „Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob es geschmeckt hat. Willst du meins?“ Er streckt mir seinen Teller hin.
Es ist verlockend und ich will das Ei. Aber ich habe schon zu viel bekommen für nichts. Nein, ich mache nur Umstände, nehme nur und kann nichts zurückgeben. Also schüttle ich den Kopf und sage: „Danke, aber nein. Ich möchte dein Ei nicht.“
Er zieht eine Augenbraue hoch, erwidert: „Dann eben nicht!“, und isst vor meinen Augen genüsslich das Ei.
Mein Blick klebt an seinen von Fett glänzenden Lippen und bevor ich auch nur daran denken kann sie daran zu hindern, gleitet meine Zunge über meine Lippen.
Kirril, der mich keinen Moment aus den Augen gelassen hat, lacht laut auf und sagt: „Das soll dir eine Lehre sein. Wenn dir das nächste Mal jemand etwas anbietet, solltest du es annehmen, wenn du es willst. Niemand fragt heutzutage aus Höflichkeit zweimal.“
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