Die Oberschenkel der Hosen gingen an derselben Stelle wie sonst die eigene Haut kaputt. Ich erinnere mich daran, dass ich sonst noch sehr gut erhaltene Lieblingshosen wegwerfen musste, weil sie Löcher an den Innenseiten der Beine hatten.
Gürtel. Auch so eine Sache. Niemandem wäre es eingefallen, einen Gürtel zu tragen. Selbst wenn du eine Taille hast, willst du nicht, dass jemand die Ausmaße deiner Hüften erkennt. So waren viele Dicke unförmig angezogen und erinnerten an einen rechteckigen Kasten. Oder, wenn die Schultern schmal waren, eher an ein Osterei. Es ist schon eine besondere Ironie, dass die Menschen, die sich gerne in der Öffentlichkeit verstecken würden, mit ihren dicken Formen ganz besonders auffallen. Du kennst den Satz „Die Trauben sind mir zu sauer.“? Bei mir waren die Trauben die Mode. Ich habe das Ganze zum Kult gemacht. Schlanke Freundinnen kritisierte ich, weil sie sich dem Modediktat unterwarfen. In den Achtzigern gab es den bezeichnenden Spruch „Männer machen Karriere, Frauen Diäten.“ Als Emanze wollte ich da nicht mitmachen und hatte wieder mal eine neue Ausrede zum Nicht-abnehmen-müssen.
In den 2000er Jahren hat sich der Spruch minimal verändert: Männer verändern die Welt, Frauen ihren Körper. Heute sage ich: Lasst uns schnell unseren Körper verändern und die überflüssigen Pfunde verlieren und dann, liebe Frauen, dann heben wir die Welt aus den Angeln!
Ich kritisierte damals, dass meine Freundinnen jede Saison viel Geld für etwas ausgaben, von dem andere bestimmten, ob es „in“ war. Passend dazu wurden Stunden im Bad verbracht, danach stylte man sich vor dem selbstverständlich verspiegelten(!) 7-türigen Kleiderschrank und brauchte Stunden beim Frisör. Lange vor der „Geiz-ist-geil“-Kampagne besaß ich wenige, offene Holzregale statt eines großtürigen Kleiderschranks. Sie sind ja auch völlig ausreichend für T-Shirt und Jeans. Auf meinem kleinen, gerade mal gesichtsgroßen (!) Spiegel prangte trotzig der Aufkleber: Alles, was schöner ist als ich, ist geschminkt.
In Zeiten der Stretch-Mode (Juhu – mir passt eine Hose in Größe 54! – hej, damals trug ich 58, da war das toll!) verliert man den Bezug zum eigenen Umfang. Es kann passieren, dass man im Biergarten mit dem Hintern, also hinten, fremde Gläser umwirft und vorne mit dem Bauch auf dem Grillteller des Nachbarn landet, weil man selbst querzwischen den Biertischen immense Ausmaße angenommen hat. Stellt euch die Kommentare vor!
Im Nachhinein finde ich es fast seltsam, dass so viele dumme und gemeine Sprüche mich nicht getroffen wirklich haben. Mein Schutzpanzer war bereits zu dick und ich wehrte mich eher verbal, anstatt abzunehmen und dem Ganzen den Grund für die Hänselei zu entziehen. Es gab Zeiten, da konnte ich mich immer spontan mit einem Spruch wehren: „Ja, ich bin vielleicht dick, aber du bist doof und ich kann abnehmen – was kannst du?“
Dicke Leute verbannen ihre Spiegel - ich damals natürlich auch. Bei Melanie steht der Spiegel im Garten und zeigt die blühende Rose immer doppelt. Es sieht super aus, ist eine wirklich schöne Gartendeko, aber geboren wurde die Idee aus dem verzweifelten Wunsch, den Spiegel aus dem Schlafzimmer zu entfernen. Nur so ist es möglich, sich selbst jahrelang zu täuschen. Leider wird man ja nicht über Nacht dick, sondern schleichend, Tag für Tag, Woche für Woche. Auf einmal sind es dann 10 Kilo mehr, die man gar nicht so genau mitbekommen hat. Das ist wie mit dem Älterwerden. Auch das passiert täglich und erst auf einem Foto sieht man die Unterschiede.
Die wenigstens Dicken wollen freiwillig mit auf ein Foto. Wenn doch, nehmen sie ein Kind auf den Schoß, den kleinen Hausdackel dazu und setzen sich hinter einen großen Blumenstrauß. Jede meiner dicken Klienten, die ich heutzutage betreue, hat solche Fotos von sich zu Hause.
Das Gesicht bleibt am längsten schön, verzeiht die Pfunde am ehesten. So lässt es sich auch erklären, warum viele Dicke genau dann mit einer Diät anfangen, wenn sie sich kurz vorher in einem Schaufenster mal als Ganzkörper-Kunstwerk gesehen haben.
Oder wenn sie ungewollt auf einem Foto auftauchen, wo es keine Versteckmöglichkeiten gab. Machen Sie sich ihre dicke Verwandtschaft zum Feind und fotografieren Sie! Jeden! Immer! Aber hoffen Sie nicht drauf, dass bereits der erste Schreck mit einem Ihrer Fotos heilende Wirkung hat. Dafür haben dann die Zukunfts-Schlanken ein Vorher-Foto zum Angeben und danken ihnen vielleicht Jahre später!
Jahre später lobte mich mein Mann, dass ich die schnellste Frau im Bad und beim Anziehen sei, mit der er jemals zusammengelebt hat. Damals war es notwendiger Selbstzweck. Wie lange kann es schon dauern, sich Jeans und T-Shirt anzuziehen und die Haare zum praktischen Pferdeschwanz zu binden? Heute brauche ich manchmal eine Aufforderung, mich hübsch zu machen. Es ist immer noch neu und ungewohnt und manchmal vergesse ich, dass ich es jetzt kann!
Wieso Pferdeschwanz? Damals scheiterten komplizierte Hochsteck-Frisuren an dicken Armen, die nicht so lange hochgehalten werden konnten. Kurze Haare gefielen mir aber auch nicht. Sie verdeckten nicht mal im Ansatz das Doppelkinn, das Richtung Dreifachkinn unterwegs war. So habe ich erfolglos ständig neue Frisuren ausprobiert. Aber auch die schönste Dauerwelle sieht bei einem schlanken Gesicht einfach attraktiver aus. Ich beneide Frauen, die seit 30 Jahren dieselbe Frisur tragen und sich damit wohl fühlen. Der Neid erstreckte sich jahrelang auch auf den Kleiderschrank. Nicht nur, dass sie eine viel größere Auswahl hatten als ich – alles im Schrank passte auch. Meine Nachbarin besitzt drei Kleiderschränke und zwei Schuhschränke voller Sachen in einer Größe. Bei mir war es jahrelang so: Passt heute, passt bei 20 Kilo weniger, passt bei 25 Kilo mehr, passt erst bei Idealgewicht und hängt im Schrank als Motivation.
Thema Schönheit. Eine Faltencreme war in den Moppel-Zeiten nicht nötig – die körpereigenen Fettablagerungen unter der Haut strafften alle Konturen. Jahrelang sah mein glatt gespanntes Gesicht jünger aus, als ich tatsächlich war. Dünne Mitmenschen mussten sich aufwendig und teuer Eigenfett-Unterspritzungen in die Naso-Labial-Falten (Mund-Nasen-Furche) setzen lassen, dazu wird aus dem eigenen Hintern Fett abgesaugt, um es im Gesicht wieder hinzuspritzen. Da bekommt doch der Ausdruck „Arschgesicht“ gleich eine ganz neue Bedeutung.
Ja, Lästern war sehr wichtig im dicken Überlebenskampf.
Jahre später sagte mir eine Freundin, auf manchen Fotos von früher sähe ich aus wie meine eigene Mutter. Stimmt nicht - meine Mutter hatte nie meine Ausmaße, jahrzehntelang war sie schlanker und modisch viel pfiffiger angezogen als ich - übrigens ein ständiges Problem für uns beide. Sie empfand mein Dicksein als Angriff gegen sich, ich empfand ihr Dünnsein auch nicht gerade als hilfreich.
Heute weiß ich: Wer nicht selbst abnehmen will, kann auch nicht dazu überredet werden. Nicht mit Geld und guten Worten. Übrigens auch nicht mit Schimpfen.
1.3. ESSEN. ZWISCHEN 5000 KALORIEN UND SALAT PLUS TEE – NORMAL GABS NICHT
Kannst du dich noch an mein Frühstück vom FAT FRIDAY erinnern? 1,5 Liter Cola Light und zwei Schokoriegel. Natürlich war ich dick, weil ich falsch gegessen hatte. Essen tat ich oft. Viel. Falsch. Dazu habe ich mich wenig bewegt. So kann man es zusammenfassen. Die Frage ist nur: Warum? Konnte ich damit aufhören?
Ein typischer Ess-Tag aus der fetten Zeit sah so aus:
Frühstück: ließ ich meist ausfallen. Mit dem trügerischen Gefühl, „leicht“ in den Tag zu starten. Fatal für Dicke: Wer morgens hungert, wird abends dick.
Ich hatte morgens keinen Hunger. Kein Wunder, nahm ich doch den Löwenanteil meiner Kalorien abends und nachts zu mir – wieder so eine „Kleinigkeit“, die ich erst später begriff.
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