Aber ich war genauso verhaltensgestört. Wenn ich große Mengen Lebensmittel kaufte, hatte ich das Gefühl, an der Kasse schief angeguckt zu werden. Dann habe ich strahlend von ganz viel Besuch erzählt, damit keiner auf den Gedanken kam, dass ich das alles alleine essen würde. Wahrscheinlich dachte die Verkäuferin darüber nach, ob sie eine halbe Stunde eher Feierabend machen dürfte, weil ihr Hund Durchfall hatte und sie dringend zum Tierarzt wollte. Gestern musste sie zwei Stunden die Wohnung putzen und einen Hund trösten, der sich mit Kacke-verschmiertem Hintern unter ihrem Bett verkrochen hatte. Mit Sicherheit war es ihr egal, wieviel ich einkaufte und genauso egal war ihr meine Begründung dafür. Die war nur für mich wichtig und so habe ich mich in diesen Jahren sehr oft selbst belogen.
Zurück zu Melanie. Sie besaß nun diese zwei Waagen, das Experiment funktionierte und sie wusste, erstmals nach Monaten wieder, ihr aktuelles Gewicht: 142 Kilo. Nach einem Heulkrampf hat sie alles in sich reingefuttert, was im Kühlschrank und in der Küche war – Melanie hatte immer viele Vorräte – und ist dann noch zum Schnellimbiss gefahren und futterte dort weiter.
Nachts hat sie mir diese Email geschrieben: „Tanja, warte nicht so lange wie ich. Keine Ahnung, wie es kam. Ich habe immer gedacht, ich wiege vielleicht 122 oder 123 kg. Du weißt schon, knapp über dem Gewicht, was meine alte Waage anzeigen konnte. Nie hätte ich gedacht, dass ich nochmal 20 Kilo zugenommen habe. 20 Kilo! Das muss aufhören! Bitte, tu dir den Gefallen, schockiere dich selbst! Kauf dir die Waagen und danach lass uns was machen – irgendwas – wir müssen etwas gegen das ständige Zunehmen tun!“
Ich bin sofort in den Baumarkt gefahren. Klar gefahren. Ich gehe doch nicht zu Fuß und schleppe zwei Waagen nach Hause. Das ist doch anstrengend! Ich nahm mein Auto. Zuhause habe ich mich im Bad eingeschlossen. Ich mach´s kurz.
Mein Gewicht addierte sich auf 136 Kilo.
Weit über dem, was ich geschätzt hätte. Obwohl ich durch die E-Mail vorgewarnt war, setze mein Denkvermögen ebenso aus wie bei Melanie. Auch bei mir endete der Tag in Heulkrämpfen und Fress-Attacken. Nicht nur die drei restlichen Schokoriegel waren in Sekundenschnelle verputzt.
Ich bin auch runter auf die Straße gelaufen. In dem wunderschönen Jugendstil-Haus, in dem ich wohnte, gab es im Erdgeschoß einen Döner-Imbiss. Den Dönerteller, den ich mir mittags in der Kantine verkniffen hatte, kaufte ich jetzt. Plus zwei weitere Teller und eine Auswahl an Vorspeisen. Der Verkäuferin erklärte ich nichts. Sie kannte mich und meine Lügen und heute war es mir auch mal egal. Das war mein schwarzer Freitag.

Foto Nr. 1 - Höchstgewicht 136 Kilo, Nürnberg 1999

Foto Nr. 2 - Startgewicht 68 Kilo, Carmel, Kalifornien, 1979
Ich war eine typische Dicke. Jahrzehntelang. Mit steigendem Gewicht nach jeder Diät und echt krassen Diät-Tagen oder Wochen zwischendurch. Dick-Sein ist eine Frage der Einstellung, nicht der Kalorien. Das hab ich lange nicht verstanden und die Tage nach Melanies Anruf waren mein absoluter Tiefpunkt. Ich nenne ihn heute FAT FRIDAY.
Mein Gewicht schwankte von 68 Kilo mit 16 Jahren bis zum absoluten Höchstgewicht von 136 Kilo mit 35 Jahren. Heute habe ich mein Traumgewicht von 68 Kilo und ich halte es – dabei bin ich fitter als damals mit 16 Jahren. Ja, ich bin genau da gelandet, wo ich gestartet bin und jetzt ist es gut! Warum also dieser riesige Umweg?
Die Zahl 68 mag gleich aussehen, aber zwischen den verunsicherten 68-Teenie-Kilos und den selbstsicheren, glücklichen und fitten 68-Traumfrau-Kilos liegt ein ganzes Leben. Viele Menschen haben sich gewünscht, dass ich ein Buch darüber schreibe und meine Erfahrungen weitergebe. Dieses Buch hast du jetzt vor dir. Um also die Höhen wirklich würdigen zu können, fangen wir mit den Tiefen an. Ich lebte jahrzehntelang in einem Teufelskreis aus Diäten und Rückfällen, Erfolgen und Niederlagen, Scham und ironisch-bissiger „Ich-bin-rund-na-und?“-Mentalität. Mit jeder Diät habe ich ein bisschen mehr zugenommen. Warum? Weil ich meine Einstellung nicht veränderte. Ich war dick, egal, mit wie vielen Kilos ich herumlief. Ich war dick im Kopf, in Gedanken und besonders natürlich in meinem Verhalten. Wie viele Dicke wünschte ich mir eine Märchenfee, die mich verzauberte.
Bitte, liebe Fee, mach, dass ich schlank werde. Über Nacht oder jedenfalls schnell und so, dass ich weiter Schokolade essen kann. Vielleicht kannst du es ja hinbekommen, dass mich das Schokolade-Essen schlank macht? Oder dass ich Brokkoli liebe und gar keine Schokolade mehr will? Du kannst das schon – einfach den Zauberstab schwingen, etwas Feenstaub auf mir verteilen und fertig, ja? Mach es. Jetzt. Bitte!
Ganz wichtig: Die Fee muss danach kostenlos im Dienst bleiben, damit die Pfunde nicht wiederkommen. Niemals. Natürlich erwartet eine Fee keinerlei Gegenleistung. Es klappt von alleine. Schließlich sind ja andere Menschen auch schlank, ohne dass sie sich kasteien müssen. Genau das will der dicke Mensch – Leistung ohne Gegenleistung.
Irgendwie war doch auch ich davon überzeugt, „von alleine“ dick geworden zu sein, also quasi unschuldig reingerutscht in die Situation. Es kann doch nicht ernsthaft am Essen liegen? An Schokolade? Schließlich isst mein Freund auch Schokolade und der ist dünn. Weil das von alleine passiert ist, wird es auch von alleine vergehen. Dachte ich. Zu der Zeit hatte ich bereits Sozialpädagogik studiert. Ich lernte die Theorie kennen, dass die Krankheit verschwindet, wenn die Ursache verschwindet. Für Traumata mag das gelten, beim Übergewicht habe ich es nicht so erlebt. Aber natürlich immer gehofft!
„Ich beschäftige mich mit meinen Sorgen und meiner Kindheit, stoße auf die große Verletzung, die alles verursacht hat. Dann heile ich die Verletzung und werde schlank.“
In der Zeit der Suche habe ich weiter gegessen wie vorher – zu viel und zu viel Falsches – aber ich war der Überzeugung, dass es eine Lösung gibt, ohne mein Essen zu verändern. Mir war gar nicht bewusst, dass ich ein selbst-zerstörerisches Verhalten an den Tag legte. Bevor ich erstmals über einhundert Kilo wog, war ich tatsächlich der Meinung, dass mein Zunehmen auf magische Art und Weise aufhören würde. Ich werde doch nicht über 100 Kilo wiegen? 100 Kilo wiegen hässliche, dicke Männer, aber doch nicht hübsche junge Frauen?! Da passiert doch vorher irgendwas? Das darf doch nicht wahr sein! Aber es wurde wahr. Die Zahl 100 beeindruckte meine Waage überhaupt nicht.
Damit war ich übrigens nicht alleine. Ich treffe heute viele Menschen, die mir bestätigen, dass es möglich ist, jahrelang sein eigenes Gewicht nicht zu kennen. Diese Blindheit betrifft aber nur das Gewicht. Alles andere funktionierte ja: Ich lebte in einer Beziehung, hatte einen großen Freundeskreis und einen tollen Job. Nach einem Umzug lernten mich neue Freunde gleich als dicke Tanja kennen und mochten mich. Ich versuchte, das Beste aus einem dicken Leben zu machen. Wie das geht? Hier ein Beispiel: Ich duschte nur. In der Badewanne stand der Bauch weit über der Wasseroberfläche und so macht ein Vollbad keinen Spaß. Genau genommen hatte ich ja nur einen nassen Rücken.
Gestern erst fragte eine Freundin: Du hast so toll abgenommen! Gell, das Leben ist jetzt leichter? Nein. Ein Leben auf der bequemen Couch ist nicht anstrengend. Sicher, heute ist der Alltag einfacher und Bewegung macht Spaß! Nur von dem Unterschied, wie es sich anfühlt, 136 Kilo einen Berg raufzuschleppen oder mit 68 Kilo freudig nach oben zu wandern, kann ich nichts erzählen. Weil ich mit 136 Kilo nicht auf den Berg geklettert bin.
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