Diese nun augenblicklich eingetretene Langsamkeit, verschaffte mir einen Berg von Zeit, so hoch, dass ich nicht einmal dahinter blicken konnte, um zu sehen, was da los war, weil dieser Berg von Zeit ja auch, wie vertraglich unmissverständlich festgelegt, nirgendwo ein Fenster besaß. Ich rief den ungeflügelten Engel, meinen alten Wahlkampfleiter, an. Er und sein ihm angetrautes Walross sollten eine Aufgabe für mich übernehmen. Sie erschienen wie aus der Tarantel geschossen. Ich glaubte, ihr ewiger Honeymoon lag ihnen allmählich schwer auf der Leber, und sie freuten sich auf Aktion, vielleicht sogar auf eine mit einem coolen C geschriebene.
„Da sind wir“, sagte der ungeflügelte Engel mit einer scharf zurück gegelten Actionstimme.
Das Walross schwieg.
„Lange nicht gesehen“, sagte ich.
„Warum eigentlich nicht?“ fragte er.
„Keine Zeit“, sagte ich.
„Warum?“ fragte er.
„Ich habe eine lange, anstrengende Ausbildung zum Schlagersänger absolviert“, sagte ich.
Ich zeigte ihnen mein Schlagersängerdiplom. Aus privaten Gründen hatte ich die Abschlussnote allerdings unkenntlich gemacht, um keine Unsicherheiten aus ihren Schlupflöchern verdampfen zu lassen.
„Du bist der erste Ministerpräsident mit Schlagersängerdiplom“, lobten sie mich.
„Leider falsch“, sagte ich. „Gerne wäre ich der erste gewesen, doch es gab schon einen vor mir.“
„Das wussten wir nicht“, sagte der ungeflügelte Engel, und das Walross schwieg. „Wer war es denn?“
„Es war der doppelköpfige Hamster“, sagte ich.
Das Walross schwieg schwer, und der ungeflügelte Engel stützte sich erschüttert auf die Seelen seiner Vorfahren. Da begann das Walross ein Lied zu pfeifen, das sich im Laufe der Zeit, als der bekannteste Nummer eins Hit des doppelköpfigen Hamsters entpuppte. Gleich ging es dem ungeflügelten Engel besser. Das Walross war viel schlauer, als man dachte.
„Warum hast du uns angerufen?“ fragte er.
Das Walross sagte zur Abwechslung mal gar nichts.
„Ich habe eine Aufgabe für euch“, sagte ich.
„Welche denn?“ fragte er, und das Walross schwieg wieder.
„Ihr müsst die Matratzendichte meiner neu aufgezüchteten Matratzengeneration dem Niveau meiner Schädelbehaarung anpassen“, sagte ich. „Davon hängt das Überleben meines Vermächtnisses ab.“
Jetzt schwieg auch der ungeflügelte Engel, weil er nicht gleichzeitig reden und rechnen konnte. Das Walross aber wusste sofort, was dieser Auftrag für beide bedeutete, auch ohne zu rechnen. Beide würden ihr Übergewicht vollständig verlieren, und wenn es gut ging, sogar ihr Gewicht.
„Wir werden beide unser Übergewicht verlieren“, sagte der ungeflügelte Engel, nachdem er mit dem Rechnen fertig war.
Das Walross schwieg.
„Ich werde es ersetzen“, antwortete ich.
Alles?“ fragte er.
„Ja, sogar bis in die dritte Generation hinein“, sagte ich.
Ich wusste, dass sie viel an Später dachten. Seit einiger Zeit verströmten sie nämlich einen Geruch von leicht angebranntem Später. Mein Angebot durchschlug widerstandslos ihr Bauchfett, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen und hatte sich, wie geplant, sogleich in ihrem zentralen Gefühlsspeicher mit seinen hochgezüchteten Emotionen festgekrallt. Sie versuchten nicht einmal, mit mir darüber zu verhandeln. Ihre abrupte Wehrlosigkeit wunderte mich im ersten Augenblick, aber dann griff mein Gedächtnis überraschenderweise wieder in das Geschehen ein und erinnerte mich daran, dass alle meine Angebote grundsätzlich mit unwiderstehlicher Überzeugungskraft ausgestattet waren. Ich hatte es wohl vergessen. Manchmal wuchs die Vergesslichkeit meines Gedächtnisses sogar so weit über sich hinaus, dass nichts anderes mehr da war. Das war viel schöner, als man sich vorher denken konnte. Aber das merkte man erst hinterher, wenn das Gedächtnis wieder dachte.
Ich blickte mich um und suchte nach dem ungeflügelten Engel und seinem ihm anverheirateten Walross. Sie waren weg. Gerade waren sie ja noch da gewesen. Da fiel es mir wieder ein. Mit der gewaltigen Potenz meiner Vergesslichkeit hatte ich sie vergessen. Gut, dass es mir wieder eingefallen war, und sie nun wieder da waren. Ich machte ein Gesicht so eckig wie global und nahm sie ins unübersehbare Visier meiner lichtscheuen Sonnenbrille mit ihrem überirdischen Gestell. Ich hatte ja noch eine Frage.
„Wie sieht es aus?“ fragte ich sie.
„Wir übernehmen den Job“, sagten sie.
„Habt ihr schon einen Plan?“ fragte ich hartnäckig weiter, wie ich es von meinem Meister, dem doppelköpfigen Hamster, einst gelernt hatte.
„Wir haben einen passgenauen Plan mit Zufriedenheitsgarantie, und zwar für alle“, sagten sie.
„Sehr gut!“ lobte ich sie.
Sie waren wirklich extrem gute Leute. Wenn es darauf ankam, konnte ich meine Rücklehne zurück klappen, ohne mich an alle ihre guten Eigenschaften erinnern zu müssen.
„Es ist ein Drei-Stufen-Plan“ sagten sie.
„Warum so viele?“ fragte ich.
„War gerade im Sonderangebot“, sagten sie.
„Sehr gut!“ lobte ich sie abermals.
Ich musste aufpassen. Das dauernde Gelobe konnte mir auch zu viel werden. Aber ich erinnerte mich an meinen einzigartigen Grundsatz, und der hieß: Besser zu viel als zu wenig. Doch auch das konnte mir bald zu viel werden.
„Hör zu!“ erklärten sie mir ihren Plan. „1. Stufe: Matratzenfabrik bauen. 2. Stufe: Matratzen bauen. 3. Stufe: Matratzen liefern. Für jeden eine.“
„Sehr gut! So machen wir es“, lobte ich sie zügellos die ganze Nacht lang und klopfte den beiden ein paar schöne Schultern zurecht.
„Und wie kommen die Matratzen zu ihren Beliegern?“ wollte ich noch wissen.
„Lieferservice!“ antworteten sie.
Gute Leute wussten eben auf alles eine ebenso schnelle wie schöne Antwort.
„Dann ran die Arbeit!“ sagte ich und drückte beiden ein grünes Licht in ihre fettigen Flossen.
„Danke!“ sagten sie.
„Bitte!“ sagte ich.
„Fertig!“ sagten sie.
Gute Leute arbeiteten eben schnell. Ich rief den ehemaligen Studenten mit der florierenden Meinungsagentur an und beauftragte eine neue Matratzenzählung. Es klingelte. Es war der einbeinige Briefträger mit dem Ergebnis der Matratzenzählung. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Wir umarmten uns nicht nur fest, sondern auch ohne vorher festgelegtes Zeitlimit. Es wurde die längste Umarmung, die es jemals zwischen einem einbeinigen Briefträger und einem vereidigten Ministerpräsidenten gegeben hatte, weil keiner aufgeben wollte. Als der Sommer kam, schwitzten wir sehr stark am ganzen Körper und seinen alternativlosen Bauchfalten, was wir aber weder unserer Umwelt noch unseren Nebenhöhlen länger antun wollten. Deshalb einigten wir uns darauf, uns gleichzeitig in der Mitte aufzugeben. Natürlich habe ich gewonnen, und er war wieder im Dienst. Leidenschaftslos tat er wieder seine fast von der Wollust der Umarmung verschlungene Pflicht und übergab mir den Umschlag mit dem Ergebnis der Matratzenzählung. Danach schlief er vor Erschöpfung gleich ein. Ich ließ ihn schlafen.
„Wer müde ist, soll schlafen.“
Dieser Satz weckte mich auf aus meiner kindlichen Verspieltheit. Eigentlich war er bis jetzt nur der unentdeckte Nebensatz eines unbekannten Hauptsatzes des doppelköpfigen Hamsters gewesen. Aber nun hatte er die Oberfläche durchstoßen und verströmte gedankenlos seine gefährliche Botschaft. Dieser Satz konnte es sicher noch weit bringen, wenn er so weitermachte.
Jetzt musste ich aber weitermachen. Ich setzte mich bequem auf den eingeschlafenen, einbeinigen Briefträger und machte mich genüsslich über das Ergebnis der Zählung her. Es war eine Zählung der internationalen Spitzenklasse. Sie perlte kreuz und quer durch mein altes, dickes Gehirn wie sonst nur der hechelnde Atem der Puddingfreunde. Alles war gelaufen wie am Band geschmiert. Die Welt hatte sich mit einem Schlag um 360 Grad gedreht, ohne dass es einer gemerkt hätte. Natürlich ist dieser Vorgang sehr schwer zu merken, meistens schaffen das nicht einmal Minister. Aber darum war ich ja auch der Ministerpräsident und nicht ein untalentierter Mitarbeiter.
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