Simons gibt zu, daß er in London über die von dem Reichskabinett erteilten Weisungen hinausgegangen sei, er bestätigt, daß nicht sein Nein zum Abbruch geführt habe. Aber drüben habe eben er die höhere Einsicht besessen. Von Berlin aus könne man die Welt nicht recht überschauen, erst an Ort und Stelle in London habe man den rechten Weitblick. Three cheers for Mr. Simons! Unsere Sachverständigen daheim sind ja nicht weither, aber wer Themseluft geatmet hat, der weiß Bescheid. Immer wohlgefälliger werden die Mienen der Zuhörer auch in der Loge für fremde Diplomaten ...Unsere Auswärtige Politik bleibt nach wie vor einem Ideologen anvertraut, dessen Gerechtigkeitsfanatismus geneigt ist, das eigene Fleisch und Blut zu kurz kommen zu lassen, einem Mann, der für eine Idee, für die Völkerbundidee, gern das deutsche Volk leben und - sterben sähe. Er paßt wundervoll in eine Zeit, in der die Gegner von uns verlangen, daß wir wieder das Volk der Dichter und Denker würden, das Geschäft aber ihnen überließen. Zunächst das Geschäft, uns die Haut vom Leibe zu ziehen. Schon einmal, unter Friedrich Wilhelm IV. gab es solche deutschen Vertreter in London, die vor der Weltgeltung Britanniens erschauerten.
NB: Anspielung auf die preußische Königin und spätere Kaiserin Augusta, deren Verehrung für alles Englische sprichwörtlich war. Sie hasste den Eisernen Kanzler. Auch ihre Schwiegertochter, Spross der Queen Victoria, gehörte zu ihrer Partei und vorübergehend ihr Sohn, der Hunderttagekaiser Friedrich. Als Wilhelm, der spätere Kaiser, die Regierungsgewalt von seinem erkrankten Bruder übernahm, endete der Liberalenspuk. Wilhelm war übrigens als Flüchtling nach der Revolution in London beim preußischen Geschäftsträger, Exzellenz Bunsen, untergekommen und zeitweilig unter seinen liberalen Einfluss geraten..
Die Reichstagssitzung vom 12. März 1921 war der gescheiterten Londoner Konferenz gewidmet, auf der Simons die Gründe für die Ablehnung des Pariser Abkommens über die Höhe der Reparationen durch seine Regierung hatte begründen sollen, was er offenbar aber nicht tat; vier Tage zuvor, nämlich am 8. März, hatten die Alliierten parallel dazu schon Teile der Ruhr militärisch besetzt und die Verwaltung der Provinz unter ihre Kontrolle gebracht und das Scheitern der Konferenz also wohl vorhergesehen.
Es gibt im Reichtag feine stille Seelen, deren tiefsten Grund das Senkblei des Kritikers nicht erreicht. Weil sie so fein und still sind, fallen sie nicht auf, und überdies sind sie selbstverständlich eine kleine Minderheit. Es gibt auch herrische, kluge Köpfe voll blendender Einfälle im Parlament, die erst recht von größtem Seltenheitswert sind. Die Mehrheit der Abgeordneten aber ist, wie es der Beruf so mit sich bringt, eine Art Lautsprecher-Telephon. Sie schreien grob heraus, was in sie hineingesprochen worden ist. Meist ist dies ein Leitartikel der Parteipresse, sehr verschieden von der Deutschen Zeitung bis zur Roten Fahne; bisweilen ist es auch nur ein Wahlplakat. Es ist eine Qual, wenn in dieser Versammlung der übereinandergepappten grellen Plakate von Kultur gesprochen wird. Beim Etat des Inneren kommt man leider nicht darum herum, denn die Weimarer Verfassung hat dieses Reichsamt noch mehr mit Kulturaufgaben bepackt, als es früher schon der Fall war, denn auch die Reglementierung des Schulwesens ist nun Reichssache geworden. Was das bedeutet, erkennt man jetzt mit Grausen; die Herrschaft des Leitartikels und des Wahlplakates auch im Wundergarten der Kinderwelt, ein Zertreten alles Zarten und Feinen durch die Vorkämpfer der Wählermassen. Gelegentlich hört man ein gutes Wort. Wenn der Schulrat Abgeordneter Beuermann von der Deutschen Volkspartei erklärt, ehe man die Völkerversöhnung in den Schulen propagiere, soll man die Völkerversöhnung herbeiführen, so tut das einem unendlich wohl.
Der Abgeordnete Löwenstein ist kein uninteressanter Geselle. Wenn ein Wirrkopf zu Wirrköpfen spricht, ist die Begeisterung gemeiniglich groß, und Löwenstein spricht wie ein Kulturbringer hoher Grade ...Wir haben nun mal eine deutsche und eine christliche Kultur. Er haßt sie infernalisch, weil sie ihm wesensfremd ist. Der deutschnationale Abgeordnete Wulle tritt während dieser Kulturdebatte für eine Gesundung unserer Theater in die Schranken, geißelt die Urheber und Dulder von Vorstellungen wie »Reigen« und »Haremsnächte«, und sofort springt Löwenstein ihn an. Hier ist nichts Gemeinsames mehr. Eine Löwenstein-Wulle-Kultur ist undenkbar ... Wulle sagt, daß die Zentrumsredner den Religionsunterricht nicht zum Wahlfach in den Schulen herabsinken lassen wollen, und sagt: »Naja, schon recht.« Er hört zu, wie seine eigenen demokratischen Parteigenossen die Einheitsschule als die Löserin aller Kulturprobleme bezeichnen, und nickt gelangweilt. Er vernimmt das Toben der äußersten Linken gegen alles, was deutsch ist und christlich, und hütet sich dagegen aufzutreten. Er war einmal nationalliberal und hat als Oberbürgermeister von Kassel, oft genug in Wilhelmshöhe in Bekundungen monarchischer Loyalität geschwelgt, hat sich dann im berüchtigten November zur Demokratie geschlagen, später, während der Kapp-Tage den Generalstreik geschürt und verteidigt, er hat also eine gehörige politische Rutschbahn hinter sich und sitzt nun am Ende und findet: »Alles war eitel« ... Man spricht und zankt bis in die Nacht hinein, die gesprochenen Wahlplakate werden immer expressionistischer, und die kulturelle Lähmung ist gar nicht mehr aufzuhalten.
Unsere Demokraten haben schwere geschäftliche Sorgen. Weniger wegen des rapiden Mitgliederschwundes, denn den nehmen sie fatalistisch hin wie jeder dem Grab sich nähernde die Arterienverkalkung und den Haarausfall. Sondern deswegen, weil die Republik bei uns durchaus nicht populär werden will. Daran ist sicher nur der alte Titel Deutsches Reich, den leider die Weimarer Verfassung aufrechterhalten hat, schuld. Einen solchen Fehler darf man nicht wieder machen. Im neuen Wehrgesetz, das im übrigen mit seinem 100 Tsd. Mann-Etat und seinem nochmaligen Abschwören der allgemeinen Dienstpflicht genau dem Ententediktat entspricht, ist deshalb von der Wehrmacht der Deutschen Republik die Rede. Der demokratische Abgeordnete Haas meint, das müsse geschehen, damit die Republik bei unserer Reichswehr endlich populär werde. Wir wollen es abwarten. Wir haben ja jetzt sogar einen Reichskunstwart, der alles Amtliche, darunter den kronenlosen Adler, unseren Herzen ästhetisch lieb machen soll. Aber die Deutschen sind nun mal komische Leute. Das alte kaiserliche Zehnmarkstück erfreut sich bei ihnen immer noch einer größeren Popularität als der neue künstlerisch-republikanische Zehnmarkschein...
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