Was aus der Geschichte von Weimar zu lernen gewesen wäre, ist die Verhinderung der auf Machterhalt gerichteten Koalitionsregierungen, von den Parteiführern als Wählerwille umgedeutet. Mehrheiten sollten von Fall zu Fall im Parlament gesucht werden; die Praxis, Kabinette durch Absprachen mit dem politischen Gegner abzusichern, führte von Beginn an zu Koalitionen aus Parteien entgegengesetzter Richtungen. Das hat die Parteien so unglaubwürdig gemacht. Das Zentrum, heute die Christdemokraten, scheinen noch am stabilsten, wenn auch ihre Beliebtheit schwankt, die Sozialdemokratie, die im Glauben vieler ihrer Anhänger noch auf dem Boden der Bebelpartei steht, schwankt je nach Wetterlage bald mehr nach links – vor Wahlen – und nach rechts – in bürgerlichen Koalitionen, Verfassungstreue garantiert, aber ein so schwer traumatisiertes Volk kann auch einmal diese Treue aufkündigen. Der Bundestag darf sich auf die Nähe zum Reichstag der Weimarer Republik berufen, die Politiker aber sollten das System von Weimar nicht heiligsprechen. Geschichte ist Veränderung und neben den sogenannten Volksparteien halten sich schließlich noch die kleineren, ämtersüchtigen koalitionsbereiten Parteien. Verändern werden wir nichts; suchen wir Trost in dem alten Stormwort: »Der eine fragt, was kommt danach, der andere, was ist Recht, und darin unterscheidet sich der Freie von dem Knecht!«
Der Krieg hatte mir, solange er dauerte, selbst die Erinnerung an frühe Beobachtungen im Reichstage gelöscht, und während der Revolution stand ich weit in Feindesland an der Front. Ich geriet erst in der Weimarer Episode unserer neuen Geschichte wieder in die Heimat, machte die Tage der Nationalversammlung mit ihren ersten großen Redekämpfen über Monarchie oder Republik, über Annehmen oder Ablehnen der Versailler Ketten, mit der Auseinandersetzung zwischen Rot und Schwarzrotgelb, der Präsidentenwahl, der Verfassungsarbeit, mit. Es waren manchmal wirklich »große« Tage. Inzwischen haben die Kämpfe über Grundsätzliches ihr Ende gefunden, man glaubt nicht mehr recht daran, daß demokratische Republik und sozialistische Republik miteinander noch auf Tod und Leben ringen werden, alles ist in einen gewissen Beharrungszustand geraten und er heißt: Parlamentarismus. Auch das ist freilich, mit Jahrhundertmaß gemessen, wohl nur Episode, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß einst alle Völker - auch das deutsche - sich aufatmend von diesem System befreien werden... Es täuscht uns vor, daß das Volk regiere. Es regiert aber nicht einmal das Parlament, das vielmehr eine hin und her flutende Masse ist, die heute ja sagt und morgen nein, immer auf das Kommando einiger Weniger, denn in Wahrheit leben wir unter einer Oligarchie... Inzwischen ist das Parlamentariertum zu einer ganz nahrhaften Sache geworden. Man bekommt 10.000,- Mark monatlich, ferner eine durch Reichszuschüsse sehr verbilligte Verpflegung, darf überall im Reiche umsonst erster Klasse fahren, während früher der Kaiser jeden Kilometer auf Heller und Pfennig bezahlen mußte, und hat auch sonst gewichtige Vorteile. Oft genug ist man auch Parteisekretär oder Vertreter irgendeines Verbandes und bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament. Und schließlich: unter dem parlamentarischen System ist man ohne Rücksicht auf Vorbildung doch Ministeranwärter und hat Aussicht auf einen Lohn von mehreren hunderttausend Mark jährlich nebst Teuerungs- und Kinderzulagen sowie entsprechende Pension ...
NB. ... bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament; offenbar eine dem Parlamentarismus innewohnende Geschäftspraxis. Bis heute ist es keiner deutschen Regierung gelungen, den Missbrauch des Mandats zur persönlichen Bereicherung zu unterbinden. Groteskerweise werden kalt gestellte Minister Drahtzieher und Berater in gerade den Branchen, für die sie in der Regierung als verkappte Lobbyisten standen. Wie jüngst A. D. 2008 publik gemacht wurde, erstellten diese Berater sogar Referentenentwürfe für Minister, die diese nur noch als Gesetzentwürfe ins Parlament zur Lesung brachten. Immerhin aber wurde im Parlament von 1921 wenigstens das reale Einkommen des Abgeordneten offen gelegt, während sich die heutigen Abgeordneten mit Händen und Füßen sträuben, das Volk die Höhe ihrer Nebeneinkünfte wissen zu lassen. Und es sind Juristen wie Otto Schily, die sich auf den Schutz der Persönlichkeit berufen, wenn sie ihre Einkünfte verschleiern.
Im Preußischen Abgeordnetenhaus wird einem greisen Zentrumsabgeordneten ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, dem Präsidenten die Glocke entrissen; eine bolschewistische Abgeordnete, Frau Wollstein, bläst aus Leibeskräften auf einer Trillerpfeife und stäubt in den Atempausen Nießpulver gegen die Reihen der nicht ganz knallroten Kollegen ...
Das sind doch nicht etwa Verlorene aus dem Abgrund, nicht etwa nur Ausbrecher aus dem Irrenhause oder - obwohl auch solche da sind - Mitglieder des Reichsbundes der Vorbestraften, sondern im großen und ganzen die Heldensöhne großer Vorfahren. Einer von diesen thront auf dem präsidialen Hochsitz, Herr Leinert aus Hannover an der Leine, der Mehrheitssozialdemokrat, der vor neun Jahren, als er noch nicht die Entwicklung zu Bratenrock und Oberbürgermeisterkette durchgemacht hatte, ebenso gegen das Präsidium tobte wie heute die Katz und Genossen. Damals - das war der erste große Skandal unserer diätengesegneten Zeit - mußte Herr Leinert samt zwei Genossen von Polizei über die Bänke gezogen und aus dem Saale geschafft werden; entsetzt sprang ein Westenknopf ab und flüchtete mit einem mächtigen Satz zu der Rechten. Das ist der große Schmerz des Brilliantenhoffmann, daß Leinert sich so verändert hat ...
Die ganze Revolution ist nur eine Lohnbewegung der Demagogen gewesen. Es ging nicht um Freiheit oder andere schöne Dinge, denn Freiheit haben wir heute weniger denn je. Ein ganzes Volk ist in Not und Verzweiflung gejagt worden, und die Maulaufreißer haben gut bezahlte Rollen bekommen. Das verdanken wir unserem Parlamentarismus. Nun ist, laut Verfassung, das Parlament unser Souverän. Statt des einen, schmählich verratenen und verbannten, haben wir jetzt ihrer 400 und mehr. Sie benehmen sich nicht gerade königlich, jedenfalls aber ganz nett parlamentarisch, was man so im Jahre 1921 parlamentarisch nennen muß ...
Rudolf Virchow hat auf allen Anthropologenkongressen stets erklärt, der Proanthropos, das Zwischenglied zwischen Affe und Mensch sei noch nicht gefunden. Vielleicht wäre er schwankend geworden, wenn er noch die Revolution erlebt hätte. Daß er den Erich Mühsam nicht gekannt hat, bleibt ewig schade. Aber es laufen noch in Freiheit genug Hanswurste der Revolution herum, die als Studienmaterial sich trefflich eignen, ehe eine nüchtern gewordene Nachwelt ihr Andenken in Gelächter erstickt, Leute von ältestem, äffischem Uradel, für die es uns heutigen Proleten nur an Verständnis fehlt. Bayern räumt jetzt durch Volksgerichte - Bauer bleibt halt Bauer - gründlich unter diesen Exoten auf, diesen Edelsten aller Verkannten. Aber nicht alle sind faßbar. Erich Mühsam, das Pumpgenie aus dem Berliner Café Größenwahn, Erich Mühsam, der Dichter, der den Schnaps besang und Monarchie und Deutschtum fast so haßte, wie Kamm und Seife, sitzt allerdings auf Festung. Aber die Genossen von ihm sind als Abgeordnete immun; und sie reden nun in unserem Reichsparlament gegen den bayrischen Ausnahmezustand, der, weil er den Normalzustand wieder herbeiführen soll, diesen Ausnahmemenschen zuwider ist ...
Wie eine Heulboje bei schwerer See legt der kommunistische Abgeordnete Thomas los. Er ist sicher kein Proanthropos, an dessen Existenz ich überhaupt nicht glaube; er ist während des Krieges nicht etwa im Urwald auf Bäume geklettert, aber er ist die fünf Jahre hindurch in einer Irrenanstalt in Würzburg gewesen. Es scheint, daß er den Reichstag für eine Gummizelle hält ... Von der Konkurrenzfirma kommt der Unabhängige Abgeordnete Unterleitner zu Wort, der Schwiegersohn Eisners, der während des Krieges als reklamierter Schlossergeselle nach München ging und mit Eisner zusammen den Generalstreik vorbereitete, um Deutschlands Waffenniederlegung zu erzwingen. In Bayern erzählt man sich, das einzige Legimitationspapier, das er nach Ausbruch der Revolution bei seiner Ernennung zum Minister vorweisen konnte, sei der Entlassungsschein des Zuchthauses gewesen. Das ist nicht wahr; er kam nur aus dem Untersuchungsgefängnis ...
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