»Scarlett!«, hörte ich Mutter schreien. Sie suchte bereits nach mir, doch ich wollte nicht wieder gut behütet weggeschlossen werden und nichts von all dem mitbekommen, was hier vor sich ging. Ich spürte genau, dass etwas in der Luft lag. Also bemerkten sie es erst recht. Bestimmt wollten sie irgendetwas vor uns Junghexen und Jungmagiern geheim halten. Ich dachte gar nicht daran, länger im Dunkeln zu tappen. Ich musste wissen, was dort passierte.
Ich rannte zum Altar, unbemerkt von den dunklen Kreaturen, die bereits Magier und Hexen bekämpften, und erblickte zu spät den in Bandagen gewickelten, alten Mann mit langem silbernem Haar. Da befand ich mich auch schon direkt vor ihm und sah zu ihm hinauf. Er stand gekrümmt auf dem Altar des Lichts und hob seine Hände und einen Stab gen Himmel. Bisher schien ihn in der allgemeinen Panik niemand zu bemerken. Hatte er etwa diesen Nebel und die dunklen Kreaturen gerufen? Die Schreie wurden immer lauter und ich hörte, ohne hinzusehen, dass es bereits Verletzte geben musste. Dennoch schaffte ich es nicht, meine Augen von ihm zu lösen. Er war einfach anziehend, wie er da stand und leuchtete. Wie die Lichtblume selbst. Auf einmal fiel sein Blick auf mich und ich stellte entsetzt fest, dass man ihm die Augenhöhlen ausgebrannt hatte. Wer war nur fähig, so etwas Schreckliches zu tun!? Und das einem alten Mann!? Er konnte mich nicht sehen und doch sah er irgendwie durch mich hindurch!
Ich war wie gebannt vor Angst, als er seine Hand nach mir ausstreckte und leicht meine Stirn mit seinen beiden Fingern berührte. Sie zitterten kraftlos und ich bemerkte, wie ein Symbol in seinen Augen zu leuchten begann. Sofort wurden meine Ohren taub und ich nahm meine Umgebung und die Schreie nur noch dumpf wahr, als wären sie in weite Ferne gerückt.
Ich konnte seine Worte genau hören, in meinem Kopf, ohne dass er etwas sagte.
Wenn der Mond die Sonne verdrängt
und der Nebel Gestalt annimmt
wenn die Kraft der Erde bricht
und der Himmel aus den Wolken fällt
verschlingt die Dunkelheit das Licht,
auf das sich Zauberkarte und Lichtblume finden.
Verwundert sah ich ihn an. Was bedeuteten diese Worte, die er nicht sprach, sondern direkt in meinen Kopf pflanzte? Wer war dieser alte Mann und wieso war er hier wie aus dem Nichts aufgetaucht?
»Scarlett!« Mutter riss mich von ihm weg, ehe ich ihm all meine Fragen stellen konnte. Ich sah entsetzt, dass ihn die Ältesten umzingelten – die dunklen Kreaturen mussten alle ausgelöscht worden sein – und ihm drohend ihre bloße Hand entgegenstreckten. Sie formten Zeichen in der Luft. Ich schrie, sie sollen ihn nicht bestrafen, er habe doch niemandem etwas getan, aber sie hörten mich nicht einmal an. Lichtblitze schossen aus ihren Fingerspitzen in seinen Körper. Der alte Mann streckte noch ein letztes Mal vergeblich seinen Arm nach mir aus. Seine Worte wanderten unhörbar in meinen Kopf, ehe er vor meinen Augen verschwand.
Ich zitterte am ganzen Leib. Sie hatten ihn getötet. Warum!? Dabei hatte er mir doch nur etwas gesagt, oder nicht? Ich begriff seine Worte nicht einmal. Sie hallten zwar in meinem Kopf wider und festigten sich mehr und mehr, aber ich konnte sie nicht verstehen. Der Mond und die Sonne, Nebel in Gestalt, die Erde und der Himmel, die Dunkelheit und das Licht, ich verstand nichts von diesen Dingen, von deren Zusammenhang. Was hatte es mit seinen Worten auf sich? Eine Zauberkarte und eine Lichtblume? Zauberkarten waren eine alte Macht, Magie zu benutzen. Sie kam kaum noch vor, aber ich hatte davon gehört. Und die Lichtblumen blühten in der Nacht außerhalb der Stadt auf den Feldern, oder etwa nicht? Sie waren gleichermaßen selten, allerdings sah man sie hin und wieder. Was sollte daran so besonders sein? Wieso töteten sie einen alten Mann, der Dinge sagte, in unsere Köpfe pflanzte, die man nicht verstehen konnte? Moment … Hatten die anderen seine Worte auch gehört?
»Scarlett!«, rüttelte Mutter erschrocken an mir, bis ich sie ansah und erkannte. »Was hat er zu dir gesagt!?«
»Nichts.« Ich log nicht, schließlich hatte er wirklich nichts gesagt. Ich verstand ihn auch ohne hörbare Worte. Wie das allerdings möglich war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Bist du dir ganz sicher, dass sie nichts weiß?«, fragte ein Ältester Mutter streng. Er sah aus wie ein Geist mit seinen langen weißen Haaren, die er offen über die Schultern fallen ließ. Sie nickte nur, nachdem sie mich erneut gefragt und ich wiederholt hatte, dass er mir nichts gesagt habe. Ich bemerkte den ernsten Blick des Ältesten, den er mir zuwarf, ehe er sich den anderen zuwandte: »Befragt alle Kinder, Junghexen und Jungmagier. Wenn einer von ihnen die Prophezeiung vernommen hat, so löscht sein Gedächtnis.«
Ich erschrak. Die Prophezeiung? Sollten diese Worte etwa die von allen gefürchtete Prophezeiung sein? Das hieße ja, dass dieser alte Mann der verbannte Weise gewesen sein musste! Aber wie war er zurück in die Stadt gekommen? Und wieso verboten sie, dass wir die Prophezeiung erfuhren? War eine Prophezeiung nicht etwas, das wahr wurde? Auch wenn sie schlecht oder böse sein sollte, so musste man sie doch kennen, um etwas gegen sie unternehmen zu können, oder nicht? Warum löschten sie unsere Gedächtnisse, dass wir es einfach vergaßen?
»Scarlett, und du weißt wirklich nichts?«
»Er hat mir nichts gesagt, Mutter.«
»Da bin ich aber beruhigt. Lass uns gehen. Dein Vater wird heute spät nach Hause kommen«, sagte sie und nahm mich bei der Hand. Ein Blick zurück zeigte angsterfüllte Gesichter, einen Rest Nebel und weinende Kinder, die von den Ältesten befragt wurden. Hatte wirklich niemand außer mir den Worten des Weisen gelauscht?
Ich musste mich unwissend stellen. Es war meine einzige Chance, mein Wissen zu behalten. Ich wusste zwar noch nicht, was ich damit anfing, aber ich würde es schon verstehen, sobald ich alt und frei genug dafür war. Ich fände heraus, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hatte. Und vielleicht konnte ich sie sogar miterleben.
Kapitel 1 | Jonathan | Maalan
Fünf Jahre war es nun her. Wer hätte gedacht, dass sich alles doch noch zum Guten entwickeln würde? Fünf Jahre, in denen ich von einem kleinen Straßenjungen zum Magier geworden war. Fast jedenfalls. Denn ich befand mich nach wie vor in der Ausbildung.
Das letzte Schuljahr war angebrochen und nun durften wir uns Adepten nennen. Endlich gehörten wir nicht mehr zu der anonymen Masse der Schüler, die die Akademie Semester für Semester aufs Neue überschwemmte, in der Hoffnung, ein Magier oder eine Hexe zu werden. Doch von denen schaffte es mit Glück nur jeder Zehnte bis ins letzte Jahr. Die Kriterien waren streng, denn nun ging es erstmals raus aus den Klassenräumen in die freie Welt, um unser Können zu beweisen. Es war das Abschlussjahr, in dem uns die praktischen Prüfungen erwarteten.
So lief ich mit gemischten Gefühlen durch Maalan, auf dem Weg zum ersten Tag des letzten Jahres, das über meine Zukunft entscheiden sollte. Es war früh am Morgen und die Nebel lagen noch in den Straßen der erwachenden Stadt.
Ich suchte mir meinen Weg durch die vielen kleinen, verschlungenen Gassen des Bettlerviertels, in dem ich wohnte. Ich hatte nie Wert auf Reichtum oder Besitz gelegt. Ein sauberes Erscheinungsbild war mir wichtiger; denn lieber war ich arm aber glücklich, statt reich und arrogant. Die meisten Schüler konnten mit ihren latenten magischen Fähigkeiten eine Menge Geld machen und trugen ihre Nase entsprechend hoch. Sie schauten herab auf das normale Volk. Ich hasste sie.
Die Sonne stieg langsam über den Horizont und tauchte den Himmel in ein dunkles Rot. Ich sah auf dem kleinen Marktplatz, der zentral im Viertel lag, die ersten Händler ihre Waren anpreisen. Fisch, frisch am frühen Morgen gefangen, und Obst, welches bereits bessere Tage gesehen hatte. Ein paar boten Gegenstände des alltäglichen Lebens an: Geflochtene Körbe, Werkzeuge, sogar ein Schneider hatte eine Auslage vor seinem Laden aufgebaut.
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