„Wenn der Honig so gut ist, dann würde ich gerne ein Glas davon kaufen. Wo bekommt man ihn denn?“, fragte Carla und sah Ewen an.
„Kaufen kann man ihn nur an zwei Stellen und auch nur dann, wenn er nicht ausverkauft ist. Am Leuchtturm Stiff, allerdings nur von Mitte Juni bis Mitte September und in dem kleinen Lebensmittelgeschäft le Marché des Îles, im Lieu dit Kernigou . Ein kleiner Teil unserer Produktion geht an ausgewählte Schokoladenfabrikanten und an einen Weltkonzern für Kosmetika. Wir haben uns in der Association Conservatoire de l´Abeille Noir Bretonne zusammengeschlossen, um unsere Bienen zu schützen und die Qualität unseres Honigs zu erhalten. Ich kann Ihnen keinen Honig zum Kauf anbieten, weil ich meine gesamte Produktion bereits an die Verkaufsstellen abgetreten habe. Wir besitzen nur noch eine kleine Menge für den eigenen Bedarf.
Auch haben unsere Bienen diese dunkle Pigmentierung, die ihnen den Namen verleiht, und die eine bessere Absorption der Sonnenstrahlung ermöglicht. Außerdem besitzen sie längere Haare. Damit sind die Bienen bestens ausgerüstet, um auch bei schlechtem Wetter Pollen sammeln zu können. Ihre Muskeln sind stärker ausgebildet, sie können also auch bei Wind ihrer Arbeit nachgehen. Unsere bretonischen Bienen sammeln in einem Radius von zehn Kilometern um den Stock herum, während die kontinentalen Bienen lediglich im Umkreis von drei Kilometern sammeln. Dadurch, dass unsere Biene größer ist, kann sie auch entsprechend mehr Pollen tragen. Zudem besitzt sie größere Fettreserven und übersteht die Wintermonate ausgezeichnet.“
Pierre Berthelé war ins Schwärmen geraten. Als er seinen Redefluss zum Luftholen kurz unterbrach, nutzte Ewen diese Gelegenheit und bedankte sich für die Ausführungen.
„Das reicht mir völlig aus, Monsieur Berthelé. Ich danke Ihnen für die Erklärungen. Sollte ich noch weitere Informationen benötigen, dann komme ich auf Sie zurück.“
Ewen und Carla standen auf, verabschiedeten sich und wollten Marie und ihren Onkel verlassen, als Ewen dann doch noch eine Frage in den Sinn kam.
„Noch eine letzte Frage, Monsieur Berthelé, Sie haben einen Kosmetikkonzern erwähnt, der sich ebenfalls für den Honig interessiert?“
„Oh ja, es ist der große Konzern Cosmétal . Die würden bestimmt noch mehr kaufen, wenn wir mehr Honig anzubieten hätten. Die Produkte, die die aus unserem Honig machen, sollen großen Erfolg haben.“
„Nochmals vielen Dank, und Ihnen, Marie, alles Gute!“
Damit verließen Ewen und Carla das Haus von Berthelé. Es war schon weit nach Mitternacht. Ewen war auf dem Rückweg sehr nachdenklich. Er sprach nur wenig und Carla war sicher, dass sich seine Gedanken um Marie Le Goff drehten.
Am nächsten Morgen rief Ewen bei seinem Kollegen in Brest an und schilderte ihm die Situation. Ein Haftrichter hatte am Tag zuvor die Verhaftung von Le Goff angeordnet, weil sich auch der Staatsanwalt der Meinung der Polizei angeschlossen hatte, dass Marie nicht abgestürzt sein konnte. Jean Le Goff kam noch am gleichen Tag frei und machte sich sofort auf den Weg zur Insel. Er war überglücklich, die Tage wieder gemeinsam mit Marie verbringen zu können.
Ewen und Carla verbrachten ihre restlichen Urlaubstage mit ausgedehnten Spaziergängen, rund um und quer über die Insel. In dem kleinen Lebensmittelgeschäft, im Lieu dit Kernigou, kaufte Carla zwei Gläser von dem Ouessant-Honig, mehr konnte sie nicht bekommen. Ein Glas wollte sie ihrer Tochter als Mitbringsel schenken.
Jetzt, da es langsam wieder der Heimreise zuging, war Ewen deutlich besser gelaunt. Carla trug es mit Gelassenheit. Ewen war glücklich in seinem Büro. Sie wusste sehr genau, dass es kein Affront ihr gegenüber war. Ewen war nun einmal mit Leib und Seele Kriminalist. Sie hoffte inständig auf eine Veränderung nach seiner Pensionierung. Ansonsten wäre es bestimmt schwer auszuhalten mit ihm. Vielleicht würde er sich ja schriftstellerisch betätigen können und aus seiner langjährigen Erfahrung eine, vielleicht sogar einträgliche, Nebenbeschäftigung entwickeln. Aber bis dahin war noch eine Wegstrecke zurückzulegen. Am Vorabend ihrer Rückreise war Ewen in die Bar des Hotels gegangen, er wollte sich noch einmal mit Tanguy Kerlann unterhalten und seinen kleinen Aperitif genießen. Carla kümmerte sich um das Kofferpacken.
„Bonjour Monsieur Kerlann, bitte einen Rosé, wie immer!“, sagte Ewen und setzte sich zu ihm an die Bar, auf einen der drei Barhocker. Er hatte in den vergangenen Tagen mehrere Flaschen Rosé geleert.
„Was sagt der Wetterbericht für morgen?“, fragte er den Hotelier.
„Leider nichts Gutes. Der Wind wird in der Nacht auffrischen, und es kann sein, dass wir morgen Windstärken von sieben bis acht bekommen.“
„Was…, sieben bis acht? Das ist ja schon fast Orkanstärke!“ Ewen hätte beinahe sein Glas Rosé fallen lassen.
„Och, von einem Orkan ist der Wind noch weit entfernt. Es wird etwas ungemütlicher auf dem Schiff sein auf ihrer Überfahrt.“
Ewen wollte erst gar nicht daran denken. Windstärke acht war jedenfalls deutlich stürmischer als auf der Fahrt hierher. Schon da hatte sich sein Gleichgewichtsorgan gemeldet und ihm das aufkommende Unwohlsein signalisiert. Was würde erst passieren, wenn das Schiff noch stärker schaukelte? Ewen widmete sich erneut seinem Glas Rosé und versuchte, sich damit zu trösten, dass sich auch ein erfahrener Inselbewohner mit den Wettervorhersagen irren konnte.
„Hat es Ihnen auf unserer Insel gefallen?“
„Ja, ganz gut sogar. Es ist ruhig und erholsam gewesen, vielleicht etwas zu beschaulich für mich. Meiner Frau schienen die Hektik und der Rummel einer größeren Stadt jedenfalls nicht gefehlt zu haben. Die Bäume haben mir gefehlt. Ich habe so gut wie keinen Baum gesehen.“
„Ja, das stimmt, Bäume gibt es auf Ouessant nicht. Aber dafür haben wir mindestens zweimal im Jahr Winde von über 180 km/Std. Dann sind wir für einige Tage völlig isoliert.“
„Das wäre nichts für mich.“
„Sie können ja im nächsten Jahr wiederkommen.“
„Wir werden bestimmt darüber nachdenken.
Sagen Sie Monsieur Kerlann, Sie kennen doch Monsieur Pierre Berthelé?“
„Pierre, ein guter Freund von mir. Wo haben Sie ihn denn getroffen?“
„Seine Nichte, Marie, wollte mich sprechen. Er scheint ein engagierter Imker zu sein.“
„Und einer der größeren, es gibt nicht sehr viele Imker auf der Insel. Die größte Imkerei, ich würde da beinahe schon von einer Art Imkerindustrie sprechen, hat einer Frau gehört, die vor acht Tagen verstorben ist. Ihr Verwalter und ein Notar führen zurzeit die Geschäfte. Der Frau gehören fast 70 Prozent der Bienenvölker. Wir sind alle gespannt, wie es weitergehen wird. Wir wissen noch nicht, wer das Ganze einmal erben wird.“
„Das hört sich nach einem größeren Vermögen an?“
„Vermögen? Nun, es ist natürlich schon sein Geld wert. Es erfordert auch eine Menge Einsatz von dem zukünftigen Besitzer. Mit dem Honig kann man nicht sehr reich werden. Selbst wenn man den besten Honig der Welt herstellt, sind die Preise für das Produkt doch begrenzt.“
„Wie hieß die Frau?“
„Julie Malgorn, sie hat die Bienenstöcke von ihrem Vater Tanguy geerbt und hat es fertiggebracht, ihre Anzahl zu verzehnfachen. Zum Teil hat sie ganze Völker hinzugekauft, aber sie hat auch selbst gezüchtet. Sie ist einfach begabt für die Imkerei gewesen. In ihrem Privatleben hat sie weniger Erfolg gehabt. Sie ist nie verheiratet gewesen und hat wohl auch keine Kinder gehabt. Die älteren Bewohner der Insel munkeln zwar, dass sie einmal ein Verhältnis mit einem Mann aus Brest gehabt haben soll, der bei einem seiner zahlreichen Besuch auf der Insel eine Klippe hinuntergestürzt und dabei ums Leben gekommen sein soll. Aber niemand weiß wirklich etwas Genaueres. Ihre Schwester Liliane hat mit ihrem Mann Serge ebenfalls auf der Insel gelebt. Serge ist Fischer gewesen. Er ist vor einigen Jahren verstorben. Liliane ist danach mit ihrem Sohn nach Paris gezogen.“
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