vorüberzieht, statt schleunigst dorthin zu eilen, wo ewige Freude wohnt. Denke oft an
jenes Sprichwort: "Das Auge wird nicht satt vom Sehen, das Ohr nicht satt vom
Hören" (Koh 1, 8). Sei also darauf bedacht, dein Herz von der Liebe zum Sichtbaren
zu lösen und dich zum Unsichtbaren zu erheben. Denn die den Eindrücken der Sinne
folgen, beflecken das Gewissen und verlieren Gottes Gnade.
Sich selbst demütig einschätzen
1. Echtes Wissen macht demütig.
2. Reiches Wissen bringt Verantwortung.
3. Tiefes Wissen führt zur Menschenachtung.
1. "Jeder Mensch hat einen natürlichen Wissensdrang", aber was bringt die
Wissenschaft schon ein ohne die Gottesfurcht? Besser ist ein demütiger Landmann,
der Gott dient, als ein stolzer Philosoph, der den Lauf der Gestirne studiert, sich
selbst aber vergisst. Wer sich selbst gut durchschaut, hält sich nicht für einen
wertvollen Menschen und erfreut sich nicht am Lobe der Menschen. Wenn ich alles
wüsste, was es in der Welt gibt, lebte ich aber nicht in der Liebe, was nützte es mir vor
Gott, der mich nach meinen Werken richten wird? Mäßige die übergroße Wissbegier,
sie lenkt dich zu stark ab, sie täuscht dich. Die viel wissen, wollen gerne beachtet und
als Weise tituliert werden.
2. Es gibt vieles, das zu wissen der Seele wenig oder gar nichts nützt. Sehr unklug ist,
wer anderen Dingen nachgeht, statt solchen, die seinem Heile dienen. Viele Worte
sättigen die Seele nicht. Das gute Leben aber ist eine Labe für den Geist und das reine
Gewissen eine Quelle großen Gottvertrauens. Je umfassender und gründlicher dein
Wissen ist, desto schwerer wiegt deine Verantwortung, wenn dein Leben nicht um so
heiliger war. Brüste dich also nicht mit irgendeiner Kunst oder Wissenschaft, fürchte
dich vielmehr wegen der dir verliehenen Einsicht. Wenn du meinst, vieles zu wissen
und es recht gut zu verstehen, so bedenke, dass es noch weit mehr gibt, was du nicht
weißt.
3. "Sei nicht überheblich" (Röm 11,20; 12, 16), gestehe lieber deine Unwissenheit.
Warum willst du dich anderen vorziehen, da es doch viele gibt, die gelehrter und
gesetzeskundiger sind als du? Willst du etwas Nutzbringendes wissen oder lernen, so
liebe es, unbekannt zu sein und für nichts gehalten zu werden. Das ist die tiefste und
nützlichste Wissenschaft: sich selbst richtig zu erkennen und gering zu achten. Das ist hohe Weisheit und Vollkommenheit: von sich selber nichts zu halten und von andern
immer eine edle, gute Meinung zu haben. Siehst du jemanden offenkundig sündigen
und sich schwer vergehen, du dürftest dich dennoch nicht für besser halten. Denn du
weißt nicht, wie lange du im Guten verharrst. Wir alle sind gebrechlich, aber halte
keinen für hinfälliger als dich selbst.
1. Gott erkennen geht über alles Fachwissen.
2. Im Lichte des ewigen Wortes (Christi) erkenne ich die Wahrheit um Welt und
Leben.
3. Der gesammelte Geist, der sich beherrscht, erkennt leichter.
4. Der demütige Geist erfasst am tiefsten.
5. Mein Wissen im Lichte des Jüngsten Gerichtes.
6. Das wahrhaft große Wissen.
Glücklich, den die Wahrheit (Gott) selbst belehrt, nicht durch vergängliche
Zeichen und Worte, sondern in ihrem Wesen. Unser Denken und unser Sinn täuschen uns oft und nehmen wenig wahr. Was nützt das lange Reden über verborgene und
dunkle Dinge? Wir werden ihretwegen nicht zur Rechenschaft gezogen, wenn wir sie
etwa nicht gekannt haben. O große Torheit, das Nützliche und Notwendige zu
übergehen, um Dingen nachzugehen, die nur der Neugier dienen und Schaden
anrichten! "Wir haben Augen und sehen nicht" (Jer 5,21 und Ps 115,5). Was
kümmern wir uns um Gattungen und Arten? Zu wem das ewige Wort (Gott) spricht,
der bleibt vor vielen falschen Ansichten bewahrt.
Aus einem Worte (Gottes) stammen alle Dinge, und von einem Worte reden alle
Dinge, und das ist "der Anfang, der auch zu uns redet" (Joh 8, 25). Ohne ihn kommt
keiner zur Einsicht, hat keiner ein rechtes Urteil. Wem alles das Eine ist, wer alles auf
das Eine bezieht und alles in dem Einen schaut, dessen Herz kann festen Stand haben
und dauernd im Frieden Gottes leben. O Wahrheit Gott, mach mich eins mit dir in
ewiger Liebe! Ich bin des vielen Lesens und Hörens oft so überdrüssig. In dir ist
alles, was ich suche und ersehne. Schweigen mögen alle Lehrer, verstummen alle
Geschöpfe vor deinem Angesichte. Sprich du allein zu mir!. Je mehr einer mit sich selbst eins geworden ist, je einfacher er in seinem Inneren
geworden ist, desto mehr und desto Höheres erkennt er ohne Mühe, weil er von oben
her das Licht der Erkenntnis empfängt. Ein lauterer, gerader und beharrlicher Geist
verliert beim Hochbetrieb nicht seine Sammlung, weil er alles zur Ehre Gottes tut und bestrebt ist, in Ruhe alle Eigensucht auszuschalten. Wer behindert und belästigt
dich mehr als die unertötete Begier deines Herzens? Der gute, fromme Mensch überdenkt
zuerst in seinem Inneren die Werke, die er nach außen zustande bringen muß. Darum
ziehen ihn die Arbeiten auch nicht ins Sündhafte und Triebhafte, vielmehr gibt er
selber den Neigungen die dem Urteil der gesunden Vernunft entsprechende Richtung.
Wer hat einen härteren Kampf zu kämpfen, als wer sich selbst zu besiegen trachtet?
Und gerade das sollte unser Grundanliegen sein: uns selbst zu besiegen, täglich in der
Selbstbeherrschung zu wachsen und so im Guten irgendeinen Fortschritt zu machen.
Allem Vollkommenen haftet in diesem Leben Unvollkommenes an, und all unser
Denken ist nicht frei von einem gewissen Dunkel. Die demütige Selbsterkenntnis
geleitet dich sicherer zu Gott als die tiefe wissenschaftliche Forschung. Die Wissenschaft verdient keinen Tadel, auch nicht das schlichte Wissen um die Dinge.
Diese sind in sich betrachtet gut und gehören der göttlichen Ordnung an. Aber ein
gutes Gewissen und ein Leben der Tugend verdienen immer den Vorzug. Weil jedoch
die meisten mehr auf das Wissen als auf ein tugendhaftes Leben bedacht sind, geraten sie oft in die Irre und zeitigen fast keine oder nur geringe Frucht. Wenn sie doch ebenso viel Fleiß aufbrächten, ihre Fehler auszurotten und Tugenden einzupflanzen,
als gelehrte Fragen aufzuwerfen, es gäbe nicht so große Mißstände und Ärgernisse im
Volke und nicht so viel Zerfall in den Klöstern.
Bestimmt werden wir am kommenden Gerichtstage nicht gefragt werden, was wir
gelesen, sondern was wir getan haben, und nicht, wie schön wir geredet, sondern wie
gut wir gelebt. haben. Sage mir: Wo sind denn alle jene Herren und Meister, jene
Leuchten der Wissenschaft, die du, als sie noch lebten, so gut gekannt hast? Schon
sitzen andere auf ihren Pfründen, und ich weiß nicht, ob diese ihrer noch gedenken.
Zu ihrer Zeit schienen sie etwas zu bedeuten, und nun ist es still um sie geworden.
Wie schnell verrauscht der Ruhm dieser Welt! Hätte doch ihr Leben zu ihrer
Gelehrsamkeit gepasst, dann hätten sie gut studiert und gelehrt.
Wieviele gehen in dieser Welt an ihrem eitlen Wissen zugrunde! Sie kümmern sich
zu wenig um den Dienst Gottes. Sie wollen lieber bedeutend als demütig sein; darum
"schwinden sie dahin samt ihrem Denken" (Röm 1,21). Wahrhaft groß ist, wer große
Liebe hat. Wahrhaft groß ist, wer in seinen eigenen Augen klein ist und alle
Ehrenbezeugungen für nichts achtet. Wahrhaft klug ist, wer "alles Irdische für Unrat
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