Sich zu outen, kam in der damaligen Zeit überhaupt nicht infrage. Sein Medizinstudium in Göttingen hätte er sonst an den Nagel hängen können. Auch seinen Eltern und seinen Freunden konnte er sich nicht anvertrauen. Kurt promovierte in Hamburg und spezialisierte sich auf die Angiologie. In der Behandlung von erkrankten Venen und besonders bei arteriellen Durchblutungsstörungen machte er sich im Laufe der Jahre einen länderübergreifenden Namen, war ein Koryphäe auf diesem Gebiet. Auf einer Tagung in Karlsruhe lernte er Joachim kennen. Er arbeitete im Außendienst einer Arzneimittelfirma, vertrieb Stents, die zur Beseitigung von Aneurysmen dienten. Jo, wie er ihn zärtlich nannte, wurde seine große Liebe. Mittlerweile hatte Kurt habilitiert und eine Professur ergattert, was ihn aber nicht daran hinderte, von Hamburg nach Offenburg zu ziehen, denn Joachim wollte in der Ortenau, in Zell-Weierbach, bleiben, da seine Eltern hier lebten.
Die Zeit hatte für die Homosexuellen gearbeitet, denn wenn ein Außenminister und der Bürgermeister von Berlin sich outen konnten, konnte Kurt das auch. Er tat es und keiner nahm Anstoß daran.
Zweiundzwanzig Jahre lebten Jo und er glücklich zusammen. Und nun war Jo weg. Von jetzt auf gleich hatte er einen Jüngeren kennengelernt und war mit ihm verschwunden – mitsamt allen Ersparnissen. Sogar sein „Notgroschen Konto“ in der Schweiz war leer geräumt.
Kapitel 5
Rudolf Talheim
„Rudolf Talheim?“, fragte eine Stimme zu seinen Füßen.
„Vierunddreißig… fünfunddreißig… sechsunddreißig“, schnaufte der Angesprochene, der auf der Hantelbank lag und enorme Gewichte in die Höhe stemmte. Erst nach dem fünfzigsten Mal legte er die Langhantel ab, wischte sich den Schweiß von Stirn, Hals und kahlem Schädel und sah den Fragesteller neugierig an. „Wer will das wissen?“
Der Brillenträger trug Straßenkleidung, war Ende dreißig, hatte einen untrainierten Körper und das schwammige Aussehen eines Büromenschen. „Mein Name ist Knogge. Dietmar Knogge. Ich bin Ihr Bewährungshelfer.“
„Du meine Fresse“, antworte der Kraftprotz nicht unfreundlich. „Hätten Sie mal was Anständiges gelernt.“ Auf Knogges Gesicht erschien ein verschmitztes Lächeln. „Ja, das habe ich mir auch schon oft genug gesagt. Aber jetzt bin ich einmal das, was ich bin.“
„Habe ich irgendetwas verpennt?“, fragte Rudi und wischte erneut Schweiß von seiner Stirn.
„Wir beide hatten einen Termin. Heute Nachmittag, um drei.“ Knogge fand, dass Talheim um einiges jünger als dreiundsechzig wirkte.
Rudolf Talheim, den alle nur Rudi riefen, stand auf und reichte dem Bewährungshelfer freundlich die Hand. „Oje“, sagte er. „Habe ich das total vergessen? Ja, habe ich“, beantwortete er seine Frage selbst. „Ich war auf Wohnungssuche… leider umsonst.
Bin ja auch erst seit drei Tagen wieder draußen.“ Der Händedruck war erstaunlich zart für so einen Kraftmenschen. „Schon abgehakt“, sagte Dietmar Knogge. „Aber das nächste Mal bitte daran denken. Können wir uns hier irgendwo unterhalten?“
„Ich denke schon“, sagte Rudi, während er seine gewaltigen Brust- und Armmuskeln mit dem Handtuch abtupfte. „Kommen Sie, gehen wir in die Cafeteria.“
Die Bedienung brachte einen Espresso sowie ein isotonisches Getränk für Rudi, der den Inhalt gleich hinunterstürzte.
„Wie gesagt“, begann Knogge. „Ich bin Ihr Bewährungshelfer und möchte Sie unterstützen, damit Sie wieder Fuß fassen können.“
„Wie unterstützen?“, fragte Rudi, dessen Atem sich nun vollständig normalisiert hatte.
„Ich kann Ihnen bei der Jobsuche helfen und bei der Wohnungssuche, wobei ersteres in Ihrem Alter ziemlich schwer sein wird.“
„Ja, das weiß ich. Aber ich finde schon was, habe ich bisher immer.“
Knogge schlürfte einen Schluck Espresso. „Sie waren sechs Monate im Bau. Wenn ich fragen darf… warum waren Sie inhaftiert? Ich könnte auch in Ihrer Akte nachschlagen, aber dort stehen nur Buchstaben drin und keine Gefühle.“
Rudi lachte kurz auf und Knogge blickte auf strahlend ebenmäßige Zähne. Anscheinend pflegte er nicht nur seinen Köper. „Ich habe meinen letzten Chef ein bisschen probegewürgt…“
„Oh! Was heißt probegewürgt? Was war der Anlass?“
„Na ja“, begann Rudi. „Ich habe in meinem letzten Job als Schaustellergehilfe und Jahrmarktboxer gearbeitet und als ich den letzten Kampf verloren hatte, weil mir der Gegner unfair in die Weichteile trat, wollte mein Chef mich nicht bezahlen.
Ein Wort ergab das andere. Er brüllte mich an, dass ich verschwinden solle. Und als er mir meinen vollgestopften Seemannssack vor die Füße schmiss, habe ich ihn gepackt und ihn hochgehoben. Seine Füße zappelten in der Luft und er wurde puterrot im Gesicht.“
„Wo haben Sie ihn denn gepackt?“
„Am Hals natürlich. War das richtig? Nein, war es nicht. Aber ich war so wütend… Ich habe ihm dann noch zwei eingeschenkt.“
„Eingeschenkt?“
„Links-rechts-Kombination.“
Knogge nickte und sein Adamsapfel vollführte einige Auf- und Abwärtsbewegungen. „Ich darf Ihnen ja nicht zustimmen, aber vielleicht hätte ich genauso gehandelt. Ich habe gelesen, dass Sie im Vollzug an einem Anti-Aggressionstraining teilgenommen haben.“
Rudi nickte zustimmend. „Stimmt, deshalb durfte ich auch vorzeitig raus.“
„Also, Herr Talheim“, sagte Knogge. „Um es kurz zu machen. Wir werden uns einmal im Monat zusammensetzen. Öfter nicht. Ich habe noch viele weitere Probanden, die es nötiger haben, mich zu sehen. Als erstes kann ich Ihnen eine kleine Wohnung anbieten, fünfundvierzig Quadratmeter, zwei Zimmerchen, kleine Küche und Bad. Für drei Monate. Danach müssen Sie was anderes finden.“
Ein breites Lächeln teilte Rudis Gesicht. „He, sind das tolle Nachrichten? Ja, das sind sie“, beantworte er seine Frage wieder selbst. Anscheinend eine Marotte von ihm.
„Als zweites“, fuhr Knogge fort, „beantragen Sie Hartz IV oder je nach Lage auch Arbeitslosengeld oder auch die Rente. Waren Sie versichert in den letzten Jahren?“
Rudi schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Genau weiß ich es aber gar nicht.“
„Das kriegen wir raus“, sagte Knogge zuversichtlich. „Was haben Sie denn beruflich alles gemacht?“
„Puh… so einiges. Dachdeckergehilfe, Versicherungsvertreter, Staubsauger-verkäufer, Türsteher, Zeitungsdrücker, Rausschmeißer, Jahrmarkt-Boxer. Ich konnte mich nie für eine Sache entscheiden.“
Knogge bezahlte. „Das wird nicht leicht, mit ‘nem Job – aber schauen wir mal.“ Er reichte Rudi einen Zettel mit der Adresse der Wohnung und händigte ihm gleich den passenden Haustürschlüssel aus. Dann verabschiedete er sich. Pfeifend ging Rudi unter die Dusche.
Kapitel 6
Vincent Bartholdi erinnert sich
Etwa drei Wochen später, Benno hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, klingelte sein Telefon. Die Nummer war ihm nicht bekannt. Er nahm ab. „Tornedde.“
„Hallo, Herr Tornedde, Melanie Bartholdi hier.“
Einen Moment lang konnte Benno die Anruferin nicht zuordnen, doch dann fiel der Groschen. „Hallo, Frau Bartholdi“, grüßte er zurück. Ein Klumpen begann sich in seinem Magen auszubreiten, rechnete er doch plötzlich mit dem Schlimmsten. Doch bevor er nach ihrem Vater fragen konnte, sprach sie mit aufsteigenden Tränen in der Stimme weiter. „Mein Vater würde Sie gern sehen, Herr Tornedde. Wir haben ihn nach Hause geholt…“ Benno hörte, wie sie sich die Nase schnäuzte, doch dann hatte sie sich wieder im Griff. „Wir glauben“… wieder benutze sie ein Taschentuch, „wir glauben, er will sich verabschieden. Er möchte nach Hause, sagte er vorgestern, um noch ein paar Dinge zu regeln. Er ist erstaunlich fit im Kopf und hat nach Ihnen gefragt.“ Jetzt hatte sie es heraus und ließ ihren Tränen freien Lauf. Erst nach geraumer Zeit sprach sie weiter. „Anscheinend hat er sich doch an Ihren Besuch erinnert und möchte, außer uns, noch vier weitere Leute sehen, die er aus dem Altersheim kennt.“
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