„Kann ich ihn dort besuchen?“, fragte Benno. „Ich bin ein ehemaliger Arbeitskollege von ihm und er war mein Ausbilder.“
Melanie Bartholdi schwieg einen Moment lang als wäge sie ein Für und Wider ab. „Wissen Sie, Herr Tornedde, Papa ist nicht mehr der Alte. Seit etwa einem Jahr ist er dement. Er erkennt uns kaum. Und sein Hörvermögen wird auch nicht besser, im Gegenteil. Aber probieren Sie es aus. Seien Sie aber nicht enttäuscht, wenn er Sie als Fremden behandelt. An manchen Tagen ist er wieder hellwach, ganz der Alte, als wäre er nie dement gewesen; dann läuft er mit seinem Rollator durchs Haus, unterhält sich mit fremden Menschen in der Cafeteria und freut sich des Lebens.“ Sie gab ihm die Adresse.
„Danke. Vielen Dank“, sagte Benno und legte auf.
Das Altenwohnheim erwies sich als u-förmiger Gebäudekomplex mit sechs Stockwerken. Benno versuchte die Fenster zu zählen, als er seinen alten VW Touran auf dem Besucherparkplatz abstellte. Aber nachdem er drei Mal gezählt hatte und jedes Mal ein anderes Ergebnis herauskam, gab er es auf.
Die Frau am Empfang gab ihm Auskunft.
„Wir haben hier hundertachtzig Dauergäste und dreiunddreißig Tagespflegestellen“, erklärte sie voller Stolz. „Alles Einzelzimmer mit Dusche und sanitären Anlagen. Alle rollstuhlgerecht. Um die zweiundzwanzig Quadratmeter groß. Das Haus ist auf dem neuesten Stand, gerade mal eineinhalb Jahre alt.“ Sie schickte Benno in den vierten Stock.
Vincent Bartholdi saß in einem Sessel und starrte aus dem Fenster. In der Ferne konnte Benno die Weinberge erkennen, die jetzt im vollen Grün standen. Noch weiter hinten erstreckten sich die rötlichen Mauern von Schloss Ortenberg.
Einige Spaziergänger flanierten auf den schmalen Wegen zwischen den einzelnen Weinanbauflächen.
Fast hätte er Vincent nicht mehr erkannt. Der alte Mann hatte deutlich an Gewicht verloren; durch sein dünnes Haar schimmerte fleckige Kopfhaut. Benno versuchte sich zu erinnern, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Drei Jahre war es her und damals war der Dreiundachtzigjährige noch fidel gewesen, fit für sein Alter, der immer noch einmal wöchentlich gemächliche Runden um den Sportplatz drehte. Und auch fit im Kopf. Doch nun wirkte er eingefallen und dumpf vor sich hin brütend. Ein dünner Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel. Er sah Benno kaum an.
Benno nahm seine Hand. „Hallo Vincent. Ich wollte dich mal wieder besuchen. Wie geht es dir?“
Der alte Mann starrte ihn nur fragend an, schüttelte dann den Kopf. „Sind Sie der Doktor?“ Seine Stimme klang leise und brüchig. „Ich kenne Sie irgendwoher.“
„Nein, ich bin nicht der Doktor. Ich bin es, Benno. Benno Tornedde, dein ehemaliger Lehrjunge.“
„Was für ein Meerjunge?“, fragte Vincent und musterte Benno nun genauer. Aber in seinen Augen lag kein Erkennen.
„Dein ehemaliger Auszubildender, Benno Tornedde.“
„Ja, ja, ja“, grinste der Alte und Benno sah, dass er in den Weiten seiner Erinnerung nach Antworten suchte. „Toilette? Warum Toilette? Da will ich aber nicht hin.“
Er tat Benno leid. „Tornedde“, korrigierte Benno. „Kannst du dich gar nicht an mich erinnern?“
Er legte den Kopf schief und versuchte, mit Bennos Gesicht eine Erinnerung wachzurufen. „Sind Sie der Doktor?“, fragte Vincent abermals, verlor aber erneut jegliches Interesse als Benno den Kopf schüttelte.
Es hatte keinen Sinn, länger zu bleiben. Die Festplatte seines ehemaligen Ausbilders hatte irreparablen Schaden genommen. Er stellte gerade den mitgebrachten Saft und die Kekse auf den Tisch, als eine Schwester erschien. Sie lächelte Benno an. „An manchen Tagen ist er wieder klarer im Kopf“, sagte sie. „Aber es geht rasant bergab. Vielleicht kommen Sie an einem anderen Tag wieder – oder besser noch, seine Tochter ruft Sie an oder schreibt eine SMS. Dann ist der Weg nicht umsonst.“
„Im Hallenbad kostet der Föhn zwanzig Pfennige“, brabbelte der Greis vor sich hin. „Meine Mama schimpft, wenn ich mit nassen Haaren nach Hause komme. Und meine Badehose ist auch noch nass.“
Seine Hose war tatsächlich nass – aber es war keine Badehose, die er trug.
Benno gab der Schwester seine Telefonnummer und verabschiedete sich. Jetzt brauchte er erst einmal einen anständigen Kaffee.
Als er aus dem Fahrstuhl trat, stieß er mit einer kleinen, attraktiven Frau zusammen. Sie wäre fast gestürzt, hätte Benno sie nicht an den Schultern festgehalten. „Hoppla. Oh, entschuldigen Sie. Ich war gedanklich noch ganz woanders.“
„Alles gut“, sagte die Blondine. Sie ging ihm gerade bis zur Schulter. „Ist ja nichts passiert.“ Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und zupfte ihren dünnen Mantel zurecht. „Das nächste Mal kostet es einen Kaffee“, strahlte sie ihn mit ihren grünen Augen an.
Benno war hin und weg und einen Moment lang völlig sprachlos. Ihr Strahlen faszinierte ihn. Sie musterte ihn lächelnd und schien sich über seine Verwirrung lustig zu machen. Sie hob ihre Hand und klappte seinen Unterkiefer zu. „Mund zu, die Mandeln werden kalt.“ Benno fiel in ihr Lachen ein. Was für ein freches Ding, dachte er. Göre wäre wohl der bessere Ausdruck gewesen, aber aus einer Göre war sie längst herausgewachsen.
Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. „Hab keine mehr“, antwortete er.
„Ich verstehe nicht“, sagte sie.
„Na, Mandeln“, lachte Benno. „Aber einen Kaffee würde ich Ihnen sofort ausgeben. Und ein halbes Stück Kuchen wäre auch noch drin.“
Sie trat in den Fahrstuhl, drückte die Sechs und bevor die Tür sich schloss, sagte sie lächelnd: „Da komme ich drauf zurück. - Irgendwann.“
Benno starrte noch einige Sekunden die geschlossene Tür an. Er überlegte, ob sie einen Ring getragen hatte, aber ihm war nichts aufgefallen. Er ging in die Cafeteria und bestellte einen Cappuccino. Hinten am Fenster saß ein kleiner, schmaler Mann, der eine Fliege trug und ins Offenburger Tageblatt vertieft war.
Er schaute kurz auf und nickte Benno zu.
Zwei Tische weiter wurde er von einer aufgehübschten, schlanken Frau gemustert, die sich bei seinem Anblick sogleich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht wischte. Da er momentan nicht an einem weiteren Flirt interessiert war, setzte er sich mit dem Rücken zu den anderen Gästen und dachte an Vincent. So wollte er nicht enden.
Kapitel 2
Lea Aust
Während Benno seinen Cappuccino trank, betrat die kleine blonde Frau, Lea Aust, die oberste Etage und ging in das Stationszimmer. Sie holte ihren Kittel aus dem mitgebrachten Köfferchen und dachte kurz an den Mann von eben. Der war ja mal echt nett gewesen. Und wie der sie angesehen hatte… Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Lea verdrängte den Gedanken, als Schwester Beate ins Zimmer kam. „Hallo Lea“, grüßte sie. „Du strahlst ja so. Ist etwas passiert?“
Lea lächelte sinnlich. „Nee, leider nicht. Das heißt, mir ist ein sympathischer Mann in die Arme gelaufen. Groß, schwer und nett aussehend, irgendwie charismatisch.“
„Die Netten sind immer vergeben oder schwul“, zerstörte Beate ihren Tagtraum. „Schließlich möchte jede von uns einen netten Kerl. Und deshalb gibt es nicht genug von ihnen. Zu wenig nette Männer für so viele unglückliche Frauen.“
Lea stimmte ihr zu. „Ja, das ist wohl unser Schicksal. Entweder sind sie verheiratet oder haben eine Macke oder verhalten sich wie Paschas.“ Sie zuckte die Achseln. „Was soll´s. Abgehakt. Wahrscheinlich ist er ein verheirateter Pascha mit einer oder sogar mehreren Macken.“ Sie öffnete ihr mitgebrachtes Köfferchen und kontrollierte, ob sie ihre Scheren, Kämme und das Rasierzeug dabei hatte.
Beate machte eine abfällige Handbewegung. „Du meine Güte, wenn ich da an meine letzte Eroberung denke. Der hat ohne Navi nicht mal den Weg zum Kühlschrank gefunden. Und das Wort ‚Saubermachen‘ war ein Fremdwort für diesen Stehendpinkler. Im Bett wollte er immer nur an meinen Zehen lutschen.
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