Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht glich einer wutverzerrten Maske. Das war nicht der Mann, den sie geheiratet hatte. Sie dankte Gott, dass ihre Kinder nicht im Haus waren. Wieder hielt er ihr die Papiere vors Gesicht und einen Moment lang konnte sie erkennen, was es mit den Papieren auf sich hatte. „Kreditvertrag“ lautete die Überschrift.
Ihr linkes Auge begann sich zu schließen. „Paul, was machst du?“, schluchzte sie. „Ich will das nicht unterschreiben. Das können wir unmöglich zurückzahlen.“
Wütend knallte er ihren Kopf gegen den Küchenschrank und ihre Welt wurde erneut dunkel. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie verstört um sich. Was machte sie hier in der Küche auf dem Fußboden und warum konnte sie ihr linkes Auge nicht öffnen? Nur langsam dämmerte ihr, was gerade passiert war. Sie rief nach Paul, bekam aber keine Antwort. Er war fort. Sie richtete sich auf und sah aus dem rechten Augenwinkel etwas Längliches unter dem Esstisch liegen. Pauls Kugelschreiber.
Lea riss sich von ihren Gedanken los und ging Richtung Ausgang. Sie überlegte kurz, ob sie in der Cafeteria noch einen Kaffee trinken sollte, entschied sich aber anders, als sie an ihr spärliches Barvermögen dachte. Mit dem bisschen musste sie bis Monatsende auskommen.
Kapitel 3
Maria von Hückenberg
Die nicht gerade dezent geschminkte Frau im Café, die Benno beim Hereinkommen gemustert und ihn für interessant befunden hatte, seufzte leise auf, als der große Mann ihr den Rücken zuwandte und einen Cappuccino bestellte. Schade, dass er keinen weiteren Blick für sie übrig gehabt hatte. Dabei hatte sie sich heute besonders hübsch gemacht. Vielleicht bevorzugte er einen anderen Frauentyp? Oder er stand auf junges Gemüse. Einen Ehering hatte er jedenfalls nicht getragen, aber auch solch ein Zeichen ehelicher Bindung war für sie noch nie ein Grund gewesen, die Finger von einem Bewunderer zu lassen. Sie holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, klappte ihn auf und musterte ihre tadellos geschminkten Lippen. Erdbeermund. Immer noch hübsch anzusehen, dachte sie. Wirklich schade, dass sie in letzter Zeit so wenig Gelegenheit bekommen hatte, mit ihrem Erdbeermund Dinge zu tun, die sie so unglaublich beherrschte.
Sie blickte auf ihre Rolex Imitation. Es war Zeit, dass ihre frühere Nachbarin auftauchte, die seit einigen Monaten hier im Altersheim ein Zimmer bewohnte. Agnes war geistig voll auf der Höhe, aber ihr neunzigjähriger Körper wollte ihr nicht mehr so wie früher gehorchen. Maria hatte ihr vor einigen Wochen einen Rollator im oberen Preissegment geschenkt, den sie sich selbst bei einem Fachhändler mal kurz zum Probeschieben ausgeliehen hatte. Natürlich hatte sie ihren Namen nicht richtig preisgegeben, als der kompetente Mitarbeiter sie danach fragte. „Ich fahre nur eine Runde um den Block“, hatte sie gesagt und war mit dem Rollator fluchtartig zur Tür hinaus, bevor der Mann sie nach ihrem Ausweis fragen konnte.
Auf dem Weg zu ihrem Auto sah sie zwei junge Männer auf sich zukommen, die ihr mitleidige Blicke ob ihrer Behinderung zuwarfen und sie verfluchte den Rollator. So alt war sie nun auch wieder nicht. Den Rollator betrachtete sie als Dauerleihgabe, auch wenn der Händler nichts davon ahnte – nahm ihn als Geschenk, zum Weiterverschenken. Maria trank einen winzigen Schluck von ihrem Kaffee, so dass es aussah, als nippe ein Vögelchen daran, um sich sogleich erneut umzuschauen. Hinten am Fenster saß ein älterer Herr, vertieft in seine Zeitung. Der Mann war sehr gut gekleidet, trug eine Fliege zum weißen Hemd und dunklen Blazer, mochte Ende Sechzig sein und hatte auffallend schmale Schultern. Er schien kaum größer als sie, also knapp über 1,60 m. Seine zarten, langgliedrigen Finger passten zu seiner schmächtigen Erscheinung.
Der Mann hatte ihr vorhin flüchtig zugenickt, als er den Tisch am Fenster ansteuerte und ihr Interesse war sofort erloschen. Mist! Obwohl sie sicherlich nur einige Jahre jünger war, schätzte sie ihr eigenes Aussehen weitaus erfreulicher ein. Sie fand, dass sie noch als Mitte bis Ende vierzig durchgehen konnte, obwohl sie die Sechzig auch schon überschritten hatte. Mein Gott, bloß nicht daran denken. Sie zupfte ihr Halstuch zurecht, um ein paar Falten am Hals zu kaschieren. Besorgt blickte sie auf ihre Hände, die ebenfalls Rückschlüsse auf ihr wahres Alter zuließen. Sie wollte gern wieder dreißig sein, ohne diese Runzeln und Krater am Hals und ohne diese hässlichen Flecken auf den Händen. Wenn sie noch genug Vermögen gehabt hätte, wäre sie jetzt sicherlich irgendwo in den Staaten, käme aus einer dieser zahllosen Schönheitsfabriken und wäre wieder faltenfrei und attraktiv.
Sie blickte erneut zu dem älteren Herrn. Er sah gut aus, war teuer gekleidet, da kannte sie sich aus. Der hatte Geld.
Bevor sie ihr eigenes Vermögen verlor, hatte sie auch aus dem Vollen geschöpft; schöner Schmuck, tolle Reisen, rassige Autos sowie attraktive Männer, die ihr das luxuriöse Leben finanzierten. Mit Wehmut dachte sie an ihre letzte Eroberung und verdrängte den Gedanken schnell wieder. Vielleicht sollte sie ihre Ansprüche mal langsam ihrem Alter anpassen? Und ältere Herren waren vielleicht auch nicht schlecht im Bett, sofern ihre Prostata es zuließ.
Und vielleicht war er auch so einsam wie sie.
Bis zur Pubertät war Maria klein und pummelig gewesen, hatte ein lückenhaftes Gebiss und große runde Augen. Bereits mit fünfzehn Jahren galt sie nicht gerade als Augenweide, aber als unersättlich und Experimenten nicht abgeneigt, vorausgesetzt, die Jungen verfügten über Geld und Auto.
Ihr Ruf eilte ihr voraus und änderte sich auch nicht nach ihrem Schulabgang. Sie fing eine Lehre als Bürokauffrau an und ließ sich ein paar Wochen später vom Juniorchef schwängern. Sie heiratete mit siebzehn.
Auch nach der Schwangerschaft, die im vierten Monat mit einer Fehlgeburt endete, galt sie als unschöne Nymphomanin, die allerdings in den nächsten Jahren Chefin über dreihundertsechzig Mitarbeiter sein würde. Nachdem ihr Mann innerhalb einiger Monate das Interesse an ihr deutlich verloren hatte, begann sie eine Affäre mit ihrem Schwiegervater, der allerdings auch nur eineinhalb Jahre durchhielt und sie dann fallen ließ, als sie ihm zu anstrengend wurde. Vier Mal die Woche Liebe machen, das war nichts mehr in seinem Alter.
Ihre erste Nasenkorrektur und Brustvergrößerung bezahlte noch ihr Schwiegervater, als er noch nicht genug von ihr bekommen konnte.
Im Laufe der nächsten Jahre folgten Zahnbehandlungen sowie weitere Schönheitsoperationen und sie verwandelte ihr Äußeres immer mehr in eine hübsche junge Frau. Die Männer begannen, sich nach ihr umzudrehen. Manch einer stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als sie vorüberging. Einige ihrer Eroberungen sahen in ihr eine entfernte Ähnlichkeit mit Senta Berger, was sie ja auch mit den Korrekturen ihres Erscheinungsbildes bezweckt hatte.
Als sie zweiundzwanzig wurde, musste die Firma ihres Schwiegervaters Insolvenz anmelden und wurde letztendlich liquidiert. Da ihre Ehe nur noch dem Namen nach bestand, ließ sie sich kurzerhand scheiden und suchte sich in den nächsten paar Jahren den einen oder anderen potenten und solventen Liebhaber. Es folgten im Laufe der Jahre Ehe Nummer zwei, drei, vier und fünf. Jeder neue Ehemann hatte ein relativ kurzes Verfallsdatum. Schnell begann sie, sich in ihren jeweiligen Ehen zu langweilen. Sie war bereits Ende vierzig, als das Schicksal ihr einen unglaublich attraktiven Mann beschenkte. Sie heiratete zum sechsten Mal. Dieses Mal war der Angetraute achtzehn Jahre jünger als sie, was ihrer Liebe keinen Abbruch tat, war sie doch der Meinung, man sehe ihr den Altersunterschied nicht an. Ihr Mann brachte nur wenig Geld mit in die Ehe und war so lieb, ihren Nachnamen anzunehmen, da von Hückenberg besser klang, als Peter Sperlich. Sie war sich sicher, dass der Name von Hückenberg ihm manche bisher verschlossene Türe öffnen würde. Maria war zum ersten Mal in ihrem Leben überzeugt, dass diese Liebe die einzig wahre Liebe in ihrem Leben sei. Sie würden lange, lange glücklich miteinander sein.
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