Es war ja auch angenehmer, denen gut zuzureden, die noch eine Perspektive hatten. Verletzungen von Unfallopfern heilten in der Regel innerhalb weniger Wochen, in schlimmeren Fällen dauerte es ein paar Monate. Krebspatienten oder chronisch Kranke dagegen, das konnte einen schon runterziehen. Er zuckte unwillkürlich zusammen. Wie hatte ihm das passieren können? Adelheid war auch ein Unfallopfer gewesen und auch sie hatte das letzte Stück ihres Lebensweges in Hoffnungslosigkeit verbracht. Wer konnte wissen, was diesem armen Unfallopfer blühte?
Heiko fühlte sich noch immer wie in dichtem Nebel, der alles um ihn herum dämpfte: Licht, Geräusche, Berührungen, Gerüche. Das, was da eben zu ihm gesprochen hatte, das hatte er schon einmal gehört oder gesehen. Es fiel ihm schwer, es einzuordnen, er wusste kaum, wo er sich befand. Ihm war schon klar, dass es einen Unfall gegeben hatte und man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, aber wo genau in der Klinik er sich gerade aufhielt und zu welchem Zweck, erschloss sich ihm nicht und es war ihm auch egal. Hatte er das Wesen damals vor zehn Jahren schon einmal kennengelernt, als er mit zahlreichen Knochenbrüchen, Quetschungen und inneren Blutungen eingeliefert worden war? Oder war es eine Erscheinung? Da war doch eine Frau beteiligt gewesen, die hatte es im Gegensatz zu ihm nicht geschafft. Tat ihm ehrlich leid, aber er konnte es nicht ändern und war damals auch völlig hilflos gewesen, wie er sich den Hinterbliebenen gegenüber hätte verhalten sollen. Er selbst hätte den Verursacher, der den Verlust eines geliebten Menschen zu verantworten hatte, nicht sehen wollen. Das hätte er als Zumutung empfunden. Darum hatte er sich auch nie bei den Hinterbliebenen gemeldet. Er hatte sich der Verhandlung gestellt und bezahlt, was ihm auferlegt worden war. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen, er war genug bestraft worden, das Leben musste weitergehen. Aber dieses säuselnde Wesen, das war aus einer Zeit, die weiter zurück lag, fast wie aus einem früheren Leben. Er dachte an seltsame Dinge: Muskelshirts, Kirschjoghurt mit Bindemittel, lindgrüne Wände unter hohen Decken, Popper, Punks und Ökos, O-Saft mit Blue Curaҫao, Tanted Love, Stefans Scirocco und der Aktenkoffer mit dem Zahlenschloss. Natürlich! Ihren Namen hatte er vergessen, aber sie hatte in der zehnten Klasse immer noch so eine akkurate Grundschul-Federmappe mit Gummischlaufen für jeden einzelnen Stift. Beherzt hatten sie sie durch die Klasse geworfen und so Schweinchen Jagen mit der grauen Maus gespielt. Und was für eine graue Maus sie gewesen war! Immer in Rock und Strickjacke, akkurater Flechtzopf und Make-up-freie Zone. Sie hatten immer gefrotzelt, dass sie sich wohl für Jesus aufsparte und das dürfte ihr leicht gefallen sein, keiner wollte sie auch nur mit den Fingerspitzen berühren. Hoffentlich war sie nicht seine behandelnde Ärztin oder für ihn zuständige Krankenschwester, dann würde er Carina bitten, ihn verlegen zu lassen. Es war ohnehin unerträglich hier – zugig und stickig zugleich. Wie war so etwas möglich?
Nun, wo sie sich in sicherem Abstand befand, konnte Dorothea wieder klar denken. Was wusste sie schon über Heiko Gärtner, was für ein Mensch er heute war, wie es in ihm aussah? Praktisch nichts.Sie würde morgen einmal nach ihm sehen und sich zu erkennen geben. Sie musste ihm verzeihen, das war ihr Christenpflicht. Damals war er ein Heranwachsender gewesen, vermutlich im Inneren zutiefst verunsichert, wollte sich trotz seiner tatsächlichen Ohnmacht stark und mächtig fühlen und musste sich damals mit seinen Freunden zusammenrotten und andere klein machen, jene, bei denen er ein leichtes Spiel hatte. Heute hatte er Macht und Stärke, da hatte er das nicht mehr nötig, aber jetzt brauchte er Hilfe und Zuspruch und sie war die Krankenhaus-Pfarrerin, es war ihre Aufgabe, ihm Trost zu spenden und ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte zu haben. Sie hatte sich kurz schuldig gewähnt, aber dieses nagende Gefühl besiegt, indem sie Pläne schmiedete, ihr Fehlverhalten aus der Welt zu schaffen. Sie würde stark und barmherzig sein. Aber nicht heute. Heute musste sie Kräfte sammeln.
Er konnte kaum noch sitzen. Die Gesäßknochen unter den zurückgebildeten Muskeln stachen in das umliegende Gewebe und der Rücken tat ihm weh, er war das lange Verharren in dieser Position nicht gewohnt. Vielleicht sollte er sich ein wenig die Beine vertreten, etwas auf dem Flur auf und abgehen, er konnte ja trotzdem in Sicht- und Rufweite bleiben.
Wie ferngesteuert lenkte er seine Schritte zu dem Schwerverletzen, der gerade seine Wartezeit um weitere Minuten, gefühlte Stunden, erhöhte. Er verfolgte keinen Plan, hatte sich weder vorgenommen, dem Verletzen Mut zuzusprechen, noch ihn nach der Ursache seines Leidens zu fragen, ja nicht einmal, ihn zu ignorieren. Er hatte gar nichts vor, setzte nur einen Fuß vor den anderen. Und dann sah er sein Gesicht. Schnitte, Blut, Hämatome, aber unverkennbar sah er die Züge von Heiko Gärtner. Die vergangenen zehn Jahre hatten ihn kaum altern lassen. Er wollte nun in die Bundespolitik, da würde der Alterungsprozess im Turbotempo voranschreiten, gegenwärtig jedoch war er - abgesehen von seinen aktuellen Blessuren – das blühende Leben. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ob er wohl schon wieder einen Unschuldigen über den Haufen gefahren hatte? Mal sehen, an was er sich erinnerte.
„Was ist Ihnen denn zugestoßen?“, fragte er arglos.
„Verkehrsunfall.“, stöhnte Gärtner.
„Wie ist es passiert?“
„Weiß ich nicht. Ich glaube, die Sonne hat mich geblendet und dann hat es plötzlich gekracht. Ich schätze, ich habe einen Baum geküsst.“
„Wohl zu schnell unterwegs gewesen.“
Nein, die Sonne.“
„Die Sonne ist nie zu schnell unterwegs.“
„Aber sie hat geblendet.“
„Die Sonne macht gar nichts. Sie ist einfach nur da.“
„Ach lassen Sie mich doch zufrieden.“
„Warum sollte ich? Ich habe doch auch keinen Frieden mehr gefunden, seit Sie mein Leben zerstört haben.“
„Ich soll Ihr Leben zerstört haben? Ich kenne Sie doch gar nicht.“
„Nein. Natürlich nicht. Für das Leid Ihrer Opfer haben Sie sich ja noch nie interessiert. Der Baum, den Sie gewaltsam geküsst haben ist Ihnen sicher auch egal.“
„Jetzt klären Sie mich schon auf.“,seufzte Heiko genervt. „Woher kennen wir uns?“
„Adelheid, meine Frau. Sie haben Sie in den Tod geschickt. Sie hatten wohl gehofft, mich niemals wieder zu sehen, ihre Schuld einfach vergessen zu können. Aber man sieht sich immer zweimal im Leben.“
„Jetzt lassen Sie mich zufrieden. Ich habe meine Strafe bezahlt. So leid es mir tut, Ihre Frau lebendig machen kann ich nicht. Ich bin verletzt und warte auf meine Behandlung. Also gehen Sie weg.“
„Ja, gleich. Aber vorher muss ich noch etwas in Ordnung bringen.“
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Ihre Decke. Ich muss Sie ordentlich zudecken.“
„Lassen Sie mich...“
Der Rest war nicht mehr zu hören. Er presste Gärtner die Decke aufs Gesicht. Der hatte kaum Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Schade war nur, dass es so schnell ging. Er hätte ihm einen epischeren und leidvolleren Abgang gewünscht. Aber man kann nicht alles haben. Nun konnte er mit ihm abschließen und Frieden finden. Er konnte ihm nie wieder wehtun.
Der Hühnerhof des Sämanns
Das Evangelium des heutigen Sonntags ließ das Licht der Erkenntnis in ihr aufleuchten. Sie hätte es lieber aus Joshuas Mund gehört, aber die Zeiten, wo der Pfarrer selbst die Bibeltexte im Gottesdienst las, gehörten der Geschichte an.
Lukas 8, 4-8 und 11-15, sie kannte das Gleichnis vom Sämann und seine Deutung seit ihrer Kindheit, aber so wie heute hatte sie es noch nie gehört. Joshua war der Sämann. Als Pfarrer legte er seine klugen Gedanken in die Herzen seiner Gemeindeglieder und Mitarbeiter und sicher hatte auch seine Familie Anteil daran.
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