Sie setzte sich wieder, Olivia stellte sich ebenfalls vor und tat es ihrer Gastgeberin gleich. »Entschuldigen Sie mein Verhalten, bitte, üblicherweise bin ich nicht so aufdringlich. Aber Sie sehen so reizend aus, dass ich dem Wunsch nachgab, Sie kennenlernen zu wollen. Eine alte Frau wie ich kann das vielleicht einfach sagen – darf ich uns einen Portwein bestellen oder möchten Sie lieber etwas anderes?« Olivia war einverstanden mit Portwein.
In der nächsten Viertelstunde erfuhr sie, dass Mrs Bolton Gärtnerin gewesen war, ihr ganzes Leben lang hier oben im Norden, aus Nebensätzen hörte sie von einem Ehemann, der vor einigen Jahren gestorben sein musste, und von Kindern, die ihr eigenes Leben führten. Das Beständigste waren die Bäume, auf die Mrs Bolton sich zunehmend spezialisiert hatte. Im Gegenzug erzählte sie selbst von ihrer journalistischen Arbeit, die sie trotz der reisefeindlichen Jahreszeit nach Windermere Market geblasen hatte. Die Winde, die eine ganze Weile kaum zu hören gewesen waren, trieben es plötzlich besonders arg und ein nachdenklich listiges Lächeln schlich sich zwischen die vielen Falten von Olivias Gesprächspartnerin: »Das ist ein toller Wind! Hören Sie? Hier oben sagen manche Leute, dass jemand ihn herbei gepfiffen hat.«
»Und glauben die Leute das auch?«
»Das ist schwierig zu entscheiden. Geschichten, die über Generationen erzählt werden und manchmal so etwas wie eine Bestätigung finden, liegt meist irgendetwas Wahres zugrunde.«
»Was für Bestätigungen sind das denn?«
»Im letzten Winter fand ein alter Kollege von mir, auch ein Gärtner, eine Pfeife, eine Ecke hatte zwischen den Steinmurmeln oben an der Küste von Salthouse auffällig genug hervor geblinkt. Er kratzte sie vollständig heraus, besah das Ding, das aussah wie ein kleines, gerades Metallrohr und dennoch alt und fremd und steckte es in die Tasche. Zu Hause reinigte er es sorgfältig und blies vorsichtig hinein. Er sprach von einem leichten hohen Ton, den er daraus hervorbrachte; unmittelbar danach habe sich ein ungeheuerlicher Sturm erhoben und über eine Stunde lang um sein Haus getobt und an den Fensterläden gerüttelt. Glücklicherweise sei alles in bestem Zustand und habe so dem Wüten standgehalten.« Sie hielt inne.
»Glaubt er, oder glauben Sie, dass das Rasen draußen um sein Haus herum mit dem Ton aus der Pfeife im Innern in Verbindung stand?« wunderte sich Olivia.
»Schwer zu entscheiden. Er hat diese Pfeife einigen Bekannten gezeigt und man kam, so berichtete er mir später, zu der Ansicht, dass sie aus Bronze und mehrere tausend Jahre alt sein könnte. Trotzdem vergaß er sie. Aber die Pfeife meldete sich zurück. Mein Kollege fühlte sie im nächsten Frühjahr in der Tasche, als er wieder am Strand unterwegs war. Und er blies ein zweites Mal hinein. Unmittelbar danach erhob sich ein Sturm, er kam allerdings nicht vom Meer, erzählte er, sondern fegte parallel zur Küste über den Strand, dass die kleinen Steine zu rollen begannen. Er selbst stemmte sich gegen diese entfesselte Gewalt und sah sehr fern am Meer, im Meer, er konnte es nicht genau erkennen, eine weiße Gestalt, die auf ihn zukam. Da er keine Lust auf einen Begleiter hatte, wandte er sich weg und ließ sich vom Sturm Richtung Salthouse treiben. Als er sich einmal umsah, war die weiße Gestalt etwas näher gekommen und schien nun zu laufen. Sie hatte etwas ungeheuer Furchterregendes an sich, das er aber nicht genauer in Worte zu fassen vermochte. Er eilte weiter, was mit diesen Naturgewalten im Rücken nicht schwer fiel, aber immer, wenn er sich umsah, hatte sich der Abstand zwischen der rennenden Gestalt und ihm verringert. Er fühlte, wie Angst in ihm aufstieg, und da an diesem leeren Strand von keinem Menschen weit und breit Hilfe in Aussicht stand, folgte er einer Eingebung und schleuderte die Pfeife so weit er es eben vermochte Richtung Meer. Wenig später legte sich der Sturm und als er sich umsah, war niemand mehr zu sehen, nur ein weißer Schleier über den kleinen Wellen, die friedlich an die Küste leckten – das ist seine Geschichte.«
»Und was denken Sie dazu?« wollte Olivia wissen.
»Was soll ich denken? Mein Kollege erzählte mir die Geschichte vor einigen Wochen und der ausgestandene Schrecken beutelte ihn erneut, obwohl das Erlebnis bereits Monate zurücklag. Ich weiß, dass er ein besonnener Mensch ist und ein guter Gärtner, der von den natürlichen Zusammenhängen allen Lebens weiß – hören Sie«, sie hob ihren linken Zeigefinger, »draußen ist es wieder ruhig geworden. Das sollte ich als Aufforderung annehmen, nach Hause zu gehen. Es war nett, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben. Ich bin sehr häufig abends hier, vielleicht habe ich noch einmal das Vergnügen, Sie zu einem Portwein einladen zu dürfen.«
Mrs Bolton erhob sich und trat einige Schritte in den Raum. Im Aufstehen nahm Olivia Geräusche unter dem Tisch wahr. Zwei riesige dunkelgraue Doggen kamen unter der Eckbank hervor und stellten sich abwartend hinter ihre Herrin. Mrs Bolton, die schon im Sitzen nicht sehr groß gewirkt hatte, schien auf einmal noch kleiner. Das faltige Gesicht neigte sich noch einmal kurz vor Olivia, dann schritt die kleine Frau hinaus, nahezu lautlos gefolgt von den beiden gewaltigen Hunden. Noch in Olivias Gesichtsfeld griff sie in ihre Manteltasche, zog ein Schlüsselbund daraus hervor und eine Hundepfeife, die die Form eines glatten Metallröhrchens hatte. Dann fiel die Schwingtür des Speiseraumes hinter ihr mit leisem Rauschen in den Rahmen.
Entspannt von einem tiefen Schlaf schlüpfte Olivia am nächsten Morgen aus dem Bett und spähte zwischen den Vorhängen hinaus auf den Marktplatz. Die leuchtend gelben Bäume standen nahezu bewegungslos in dem fahlen Vormittagslicht, unter ihnen parkten mehr Autos als am Abend, doch viele waren es noch immer nicht. Ihrem Hotel gegenüber auf der anderen Seite des Platzes sah sie mehrere kleine Läden dicht gedrängt nebeneinander: Backwaren, Gemüse und Lebensmittel, weiter links folgten ein Pub und ein kleines Gasthaus mit einem großen Torbogen, an der linken Seite wurde die Aussicht von einem langen einstöckigen Haus abgeschlossen.
Eine Stunde später stand sie in dem Bäckerladen und verlangte einige kleine Brotstangen und zwei Nussschnecken. Als sie sich mit ihren Tüten im Arm zum Ausgang wandte, stellte sie fest, dass sie genauso gut innen durch einen schmalen Gang mit Gemüsekonserven in den nächsten kleinen Laden gelangen konnte. Sie versorgte sich mit zwei Äpfeln und einer Birne und hatte derweil herausgefunden, dass sie auch hier durch einen Gang weiter in den Lebensmittelladen kam. Mit dunklen, sehr alt aussehenden Regalen an den Wänden entlang, enthielt er alles, was man für das tägliche Leben brauchen mochte bis hin zu einer umfangreichen Auswahl von Aromaölen für Potpourris. Die Engländer hatten eine Schwäche für diese Mischung aus getrockneten Blüten und Blättern, die sie in Schalen in ihren Häusern aufstellten. Wenn der ursprüngliche Duft nachließ, konnte man ihn mit den Aromaölen wiederbeleben. Olivia schaute sich begeistert um, sie liebte diese kleinen Vorratsinseln, die man in England immer wieder mal antreffen konnte. Im vierten der kleinen Läden ließ sie sich einige dicke Scheiben verschiedener Käse abschneiden, stellte zwei Tüten frischer Milch dazu und war für den Tag versorgt.
»Ich komme mir fast wie im Schlaraffenland vor«, schaute sie die Verkäuferin munter an, »man findet immer noch einen schmalen Gang mit Regalen voll verführerischer Dinge, hinter dem sich ein weiterer Raum mit Essbarem auftut. Was von außen getrennt aussieht, gehört in Wahrheit zusammen?«
Die etwas derbe Frau hinter der Theke hielt beim Käseschneiden inne: »Das war nicht immer so hier, wissen Sie. Früher waren das einzelne Läden und einzelne Häuser und kleine Kaufleute. Aber die Zeiten haben sich hier auch geändert. Die alte Mrs String war sehr tüchtig, Sie verstehen? Noch als ihre Tochter schon die Bäckerei und den Lebensmittelladen führte, hat sie von hinten mitgemischt. Heute gehört alles ihrer Tochter, auch die Häuser. Die Familie lebt sehr bequem da oben, stelle ich mir vor. Aber sie haben ja auch fünf Kinder, da kann man schon Platz gebrauchen, ist alles ganz in Ordnung. Nur war es halt schön, als dieser Milchladen noch meinen Großeltern gehörte.«
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