»Aus Ihrer Kleidung schließe ich, dass Sie dem Aufenthalt in frischer Luft nicht abgeneigt sind. Lassen Sie uns einen Spaziergang ans Meer machen, im Gehen redet es sich leichter. Ich bin sofort bereit.«
Tatsächlich sperrte er zwei Minuten später in wetterfester Kleidung seine Haustür zu und führte sie zu einem Fußweg, der sich zwischen den umhegten Weiden schließlich im Dunst verlor.
»Sie halten Pierre für unschuldig?« eröffnete er das Gespräch.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Warum sollten Sie sich sonst seiner annehmen?«
»Zum Beispiel, um die Wahrheit herauszufinden.«
»Aber Ihrer Meinung nach liegt die Wahrheit nicht dort, wo das Gericht sie zu finden glaubt. Sonst wären Sie nicht hier. Da das Gericht Pierre für schuldig hält, tun Sie es demnach nicht.«
»Sagen wir, ich möchte wissen, was wirklich passiert ist.«
»Nun, dann können Sie endlich nur herausfinden, dass Pierre die Tat nicht begangen hat!« Parnell klang sehr entschieden. »Was kann ich dazu beitragen?«
»Wie gut kennen Sie ihn?«
»Ziemlich gut. Sein Vater ist mein bester Freund und Pierre ihm im Wesen ähnlich.«
»Wie lange kennen Sie seinen Vater?«
»Gemeinsam mit Dick bin ich am Nordrand der Karoo-Halbwüste aufgewachsen, er auf einer großen Schaffarm und ich als Sohn des dortigen Lehrers. Für ihn war die Landwirtschaft als ein Miteinander von Mensch und Erde das aufregendste Thema, das er kannte und kennt. Er liebt das Land. Pierre ebenso. Ich steckte meinen Kopf schon damals mehr in Bücher, es gab bei mir zu Hause davon mehr als Schafe, wenn Sie so wollen. Ich las alles über die Geschichte und Geographie Südafrikas, was auf den Bücherbrettern meines Vaters und beim Pfarrer herumstand, darüber hinaus Romane, Abenteuer- und Entdeckungsgeschichten und Märchensammlungen; unter ihnen gab es einige wenige Aufzeichnungen der Geschichten, die die afrikanischen Menschen sich am abendlichen Feuer erzählen. Schließlich ließen mich jene Afrikaner, die seit alters her, seit nahezu ewig ein Anrecht hatten, dort zu sein, nicht mehr los.«
»Das sind die Buschmänner, Pierre erwähnte es.«
»Ja, die Buschmänner – Dick und ich diskutierten sehr viel, als wir älter wurden, über unsere Lieblingsthemen und über fast alles sonst. Wir fühlten uns, als könnten wir ganze Kontinente neu entdecken – ich bekam eine Stelle in Kapstadt, kurz bevor Pierre zur Welt kam und sah ihn aufwachsen, er hat den gleichen freien Geist wie sein Vater und die gleiche Großherzigkeit.«
»Sie leben schon lange in Norfolk…«
»Stimmt, gut zwanzig Jahre. Die ganze Zeit hindurch haben Dick und ich lange Telefongespräche geführt und in den letzten acht bis zehn Jahren war ich mehrmals bei ihm auf Besuch. Jedesmal war Pierre auch da.«
»Und doch besuchte er Sie hier nur ein Mal.«
»Richtig. Mehr Freiraum ließ ihm sein Onkel nicht. Pierre und ich hatten ursprünglich andere Pläne, hatten aber nicht vermutet, wie viel Zeit Mr Hobart sich für seinen Neffen nehmen würde.«
»Wie erklären Sie sich das?«
»Ganz einfach, wir kannten ihn beide nicht.«
»Sie haben ihn nie gesehen?« Olivia machte kein Hehl aus ihrer Überraschung.
»Einmal in ferner Vergangenheit, Dick glaubt, dass es 1961 war, traf ich Jonathan in Südafrika. Er besuchte seinen Onkel, den Vater von Dick, ich hatte Semesterferien, fuhr aber hinauf in die Kalahari – in Sachen Buschmänner – und sah ihn nur einen Tag lang, jedenfalls erinnere ich mich an kein weiteres Zusammentreffen, und Dick auch nicht.«
»Hat Ihr Freund von seinem Vetter erzählt, damals oder seither?«
»Warum wollen Sie diese mordfremden Dinge wissen?«
»Sie gehören zu Pierre Hobart. Im nahen Umfeld des Mordes liegt die Lösung nicht, also suche ich im weiten.«
»Nun gut. In letzter Zeit, genauer gesagt seit Pierres Verhaftung, war Jonathan Hobart häufiger Thema, wie Sie ganz richtig hoffen. Er kam damals gemeinsam mit einem Jugendfreund aus der Umgebung von Windermere nach Afrika. Beide waren eine Weile bei Dicks Vater, bereisten dann das Land und kamen zurück. Dieser Freund ist der Karoo verfallen, er hat in England Landwirtschaft studiert, erwarb am Rand der Steppe Land und züchtete Schafe. Dick studierte zu dieser Zeit bereits den Weinanbau in der Kapregion und war bei dem zweiten Aufenthalt der beiden Engländer auf seines Vaters Farm nicht dabei.«
»Dieser der Wüste verfallene Engländer züchtet dort noch immer Schafe?«
»Nein, vor einer Reihe von Jahren hat er seine Farm verkauft und ist nach Norfolk zurückgekehrt.«
»Warum das denn?«
»Der Wollmarkt war seit längerem in der Krise. Sie hatte damit begonnen, dass Persianermäntel außer Mode kamen und damit die Felle der Karakullämmer nicht mehr gefragt waren. Trotzdem behauptete sich Südafrika als einer der wichtigsten Wollproduzenten der Welt ganz gut. Einstweilen, der Druck der amerikanischen Wollproduktion wurde immer spürbarer, ihm folgten die Handelsbeschränkungen in Zusammenhang mit der Apartheidpolitik. Inzwischen ist Australien eine starke Konkurrenz. Mancher Farmer versuchte umzusatteln. Dick meint gehört zu haben, dass unser Mann eine glückliche Gelegenheit nutzte, sein Land zu verkaufen – außerdem habe ich häufiger beobachtet, dass die Menschen, wenn sie älter werden, in ihre Heimat zurückkehren. Vielleicht hat beides zusammengespielt.«
»Wissen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Und seine Adresse hier in Norfolk natürlich auch nicht?«
»Nein!«
»Was für ein uninteressanter Mann das sein muss. Trotzdem war er so stark, sich in ein karges, wildes, einsames Land so dramatisch zu verlieben, dass er seiner Heimat den Rücken kehrte und seine Existenz am anderen Ende der Welt aufbaute.«
Olivia bohrte ihren Blick in die Undurchdringlichkeit der grauen Welt den Weg voraus. Sie waren im Reden nicht sehr schnell gegangen und doch glaubte sie, das Meer zu riechen. Sie hörte Möwenschreie, hatte sie wohl die ganze Zeit schon gehört ohne ihnen Beachtung zu schenken, doch sie klangen, als hätten die Vögel ihre Schnäbel in Tondämpfer gesteckt. Ihre Instinkte wehrten sich gegen diese herabgedämpfte Einsamkeit. »Wie weit ist es noch bis ans Meer?« wandte sie sich an ihren Begleiter.
»Ein paar hundert Meter. Bei klarerem Wetter hätten Sie es die ganze Zeit über gesehen.« Sie gingen weiter.
»Haben Sie und Mr Hobart-Varham noch weitere Engländer aus Ihren Erinnerungen gegraben, die auf der Schaffarm seines Vaters vorbeikamen? Übrigens, gibt es diese Farm noch?«
»Es gibt sie noch. Dicks älterer Bruder hat sie übernommen – ein Engländer ist uns im Zusammenhang mit Jonathan tatsächlich eingefallen. Jonathan hat ihn irgendwo in unserer Gegend getroffen und mitgebracht; ich war schon weg, Dick aber erinnert sich vage: John hieß er wohl, er war einige Jahre älter als Jonathan, kam aus der gleichen Gegend hier in Norfolk und war im Auftrag einer englischen Handelsgesellschaft seit zwei Jahren oder etwas mehr oder weniger in Südafrika tätig. Die zwei oder genauer die drei haben sich dann wohl in Johannesburg wiedergetroffen.«
»Hat John auch einen Nachnamen?«
»Keinen, den wir noch wüssten.«
»Vielleicht erinnert sich Mr Hobart-Varhams Bruder genauer?«
»Dazu kann ich nichts sagen.«
»Warum ist er denn überhaupt im Gedächtnis hängengeblieben?«
»Er hatte entscheidenden Einfluss auf den Lebensweg von Jonathan. Die beiden gingen von Südafrika gemeinsam nach Kanada, ohne Umweg über England. Dieser John wurde von seiner Firma dorthin versetzt, glaubt Dick sich zu erinnern. In Kanada blieben sie zusammen, Jonathan beendete sein Jurastudium und arbeitete als Jurist viele Jahre in Kanada, bevor er nach Schottland ging und schließlich nach Norfolk zurückkam. Dieser John ist wohl nach einigen Jahren in Kanada gestorben.«
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