Wieder auf der Straße schaute Olivia sich noch einmal um und fand sich wieder vor vier schmalen Häusern: Das erste eierschalenfarben gestrichen, das zweite hellblau, das dritte und schmalste, in dem man Gemüse und Obst bekam, war schwarz-weiß und das letzte und gewichtigste ziegelsteinrot. In ihm wurde noch immer Brot gebacken, wie ihr der Duft verriet. Er begleitete sie noch ein kleines Stück des Weges. Durch den Torbogen des Gasthauses, den sie aus ihrem Fenster gesehen hatte, gelangte man in eine schmale Straße mit Reihenhäusern aus dunklem Ziegelstein und zur Kirche. Langsam schritt sie an den Gedenktafeln im Innern entlang. Sie lasen sich wie eine Heldenchronik des Ortes, weit waren die Leute von hier aus in der Welt herumgekommen, auch wenn ihre Lebensgeschichte oftmals recht früh ihr Ende erreicht hatte. Nachdenklich ging Olivia weiter. Das einstöckige Haus, welches den Platz an dieser Seite abschloss, enthielt unter anderem die Gemeindebücherei, die konnte vielleicht noch nützlich sein. Neugierig las sie die Buchtitel hinter den beiden Fenstern und wurde tatsächlich überrascht: Dort stand eine Sammlung von Grimms Märchen, mit einem Nachwort herausgegeben von Charlotte Hewitt. Ob das dieselbe war, deren Leichnam Pierre Hobart in der Furt gefunden hatte? Sehr wahrscheinlich – so oft würde es denselben Namen doch nicht geben. Müßige Gedanken, sie müsste das fragen. Wann war die Bücherei das nächste Mal geöffnet? Mittwoch ab 16.00 Uhr, also heute Nachmittag. Damit konnte man etwas anfangen. Sie fühlte sich belebt, als hätte sie eine Entdeckung gemacht. Und der Anfang eines Anfangs konnte es immerhin sein. Entschlossen ging sie zu ihrem Auto, legte den Proviant auf den Rücksitz und zog die Karte von East Anglia aus der Tasche. Auf einmal war sie sicher, dass eine Fahrt nach Paston genau das Richtige für den heutigen Vormittag war, wenn man die Absicht hatte, mit dem Nachmittag noch etwas anderes anzufangen. Die längste Zeit konnte sie einer Straße mit einer vierstelligen Zahl folgen, so würde sie hoffentlich nicht all zu viele Probleme haben, ihren Weg zügig zu finden. ›Ich werde das Meer sehen,‹ prickelte es durch ihre Glieder, während sie den alten Saab über die gewundenen Straßen nach Nordosten steuerte.
Die Landschaft wurde weiter und flacher. ›Wahrscheinlich könnte ich drei Tage vorausschauen,‹ sinnierte Olivia, ›wenn es nur nicht so verhangen wäre. Drei Tage voraus ist vielleicht schon das Nichts. Schließlich werden die Leute wissen, wovon sie sprechen, wenn sie sagen, Norfolk liege auf dem Weg nach nirgendwo. Was könnte das ›Nirgendwo‹ sein? Ein Loch auf dem Weg, groß genug, eine Kutsche zu verschlucken, wie es bei Virginia Woolf hieß… Doch der fragliche Weg führte vor mehr als fünfhundert Jahren durch das Moor, das war heute trockengelegt und die Straße asphaltiert. Ein Galgenbaum – so verwoben mit grauslichen Geschichten, dass sich niemand in seine Nähe wagt. Oder jener Raum zwischen Land und Himmel, den man nie erreicht, solange man auch unterwegs ist… Im Augenblick ist er gar nicht so weit weg, genau genommen dort hinten in der Kurve.‹ Olivia bremste. Hier war Knapton, sie musste durch den Ort hindurch und auf der anderen Seite weiter nach Paston, also bog sie nach rechts ab. ›…für einen Londoner könnte auch so ein abgelegener Ort das ›Nirgendwo‹ sein. Die John Paston, Vater und Sohn, hatten das vor fünfhundert Jahren schon so gesehen und den größten Teil ihres erwachsenen Lebens in der Hauptstadt verbracht. Sie konnten das tun, weil ihre Ehefrau und Mutter Margaret hier in Norfolk ausharrte und mit eiserner Hand und schwerem Herzen die Güter der Paston, nach denen heute noch der winzige Ort hieß, verwaltete. Das war zurzeit der Rosenkriege… die Woolf und die Pastons… Hoppla, da bin ich ja schon!‹
Olivia hielt an. Klarer war die Fernsicht auf das Meer zu nicht geworden, für Paston allerdings reichte sie noch. Sie parkte ihr Auto in Sichtweite der Kirche und stieg aus. Der dicke Turm war aus Flintstein gebaut und hatte die alte Familie sicherlich gesehen, und umgekehrt. Sie strich um die Kirche herum, hinein kam sie nicht, leider, denn ihre Neugierde richtete sich auf die Grabplatten der Pastons im Innern. Nicht weit weg stand eine Scheune, die ebenfalls die Jahrhunderte und Nordseestürme überdauert hatte. Die Wände waren hoch hinauf gemauert und das Dachgestühl massiv gezimmert. Olivia schaute sich um, doch nicht sehr lange. Wachsende Unruhe mahnte sie an den eigentlichen Grund ihres Aufenthaltes in Norfolk. Sie war hier, um, vielleicht, Laureen zu helfen, und bisher unerkanntes Material über den Mord an Charlotte Hewitt zu finden, von dem diese Mauern überhaupt nichts wussten. Widerstrebend drehte sie ihnen den Rücken zu und schritt dann zügig auf der Hauptstraße nach Norden. Kein Mensch und kein Auto, nicht einmal ein Haus war zu sehen, nur Weiden rechts und links der Straße, auf einer grasten Schafe, immerhin. Nach einigen hundert Metern kam sie an eine Kreuzung. Hier hatte die Gemeinde einen Lageplan aufgestellt, das war so überraschend wie hilfreich und nach einigem Hin und Her glaubte Olivia, ein schwarzes Quadrat als das Haus von Stanley Parnell herausgefunden zu haben und machte sich auf den Weg.
Das musste es sein. Sie stand an der Gartenpforte und schaute auf ein altes Haus mit kleinen Fenstern und Mauern, die sicherlich einen halben Meter dick waren. Die Haustür war blau gestrichen, die Wände weiß und das Dach vor nicht allzu langer Zeit mit Schindeln neu gedeckt. Darum herum erstreckte sich eine kurzgeschnittene Wiese mit zwei mächtigen Ulmen und ein einfacher Gartenzaun aus Holzlatten. Das Meer konnte sie nicht sehen, aber Pierre Hobart war vielleicht an einem klaren Tag hier gewesen. Das Ganze wirkte so still und zurückgezogen, dass sie es in einem Winkel ihrer Magengrube empörend aufdringlich fand, ohne Anmeldung über dieses Haus und seinen Besitzer hereinzubrechen. Für den Augenblick hasste sie das Detektivspielen, das ihr diese Unhöflichkeit abverlangte, andererseits hatte sie sich entschlossen, Pierre Hobarts vermutliche Unschuld aufzudecken, also war es Zeitverschwendung, weiter an der Pforte herumzustehen. Sie öffnete sie und schritt auf das Haus zu, nicht unbemerkt von seinem Bewohner, denn die Haustür öffnete sich, bevor Olivia sie erreichte. Ein untersetzter kräftiger Mann kam ihr entgegen: »Ist Ihr Auto zusammengebrochen? Kann ich Ihnen helfen?«
Darauf war Olivia nicht gefasst gewesen. Sie sah den ganz in dunkelblaue Wolle verpackten Mann an und schwieg.
»Kann ich Ihnen helfen?« wiederholte er sein Angebot.
»Ich hoffe es – dringend sogar. Aber mein Auto ist ganz in Ordnung.« Jetzt schwieg ihr Gegenüber in Blau und wartete. Sie sah ihn eine Weile ruhig an. Dieser Mann also war im entlegensten Südafrika aufgewachsen, von Beruf Ethnologe, seit Kindheitstagen konzentriert auf das Leben und Überleben der Buschmänner und fähig zu dauernder Freundschaft. Er hielt ihrem Blick abwartend stand und Olivia entschloss sich zur Offenheit.
»Sie sind Mr Parnell?« Ihr Gegenüber nickte und wartete wieder.
»Wären Sie bereit, mit mir über Mr Pierre Hobart-Varham zu sprechen?« Jetzt war die Verblüffung auf seiner Seite.
»Sie kennen Pierre? Davon weiß ich ja gar nichts!«
»Das ist auch fast nicht möglich.« Olivia stellte sich als Journalistin und gute Bekannte der Verteidigerin Laureen Gaynesford vor. Bei einem gemütlichen Gespräch vor ihrem Kamin sei sie auf Norfolk und ihre Absicht zu sprechen gekommen, einige Tage hinaufzufahren. Daraufhin habe Mrs Gaynesford von dem Mord berichtet und sie gebeten, in dieser Sache die Ohren offenzuhalten.
Sie standen noch immer auf dem Gartenweg. Stanley Parnell ließ sie keinen Moment aus den Augen, auch nicht, als sie geendet hatte. Was in seinem Kopf vorging, wagte Olivia nicht zu sagen.
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