Ansonsten wurde natürlich gefischt und Muscheln gesammelt, die steinige Küste bot sich dafür an. Kap Azul, die Hauptstadt lag an, dem für Seefahrer gefährlichen, Kap Sturmwind, das jedes Jahr seine Opfer forderte. Ansonsten war eigentlich nur die Küstenregion dicht besiedelt, im Inland gab es wenige kleine Dörfer oder Städtchen, dafür aber sehr viele, vereinzelt gelegene, Bauernhöfe. Ach ja, Sommerau sollte man noch nennen, dort gab es die einzige Kathedrale der ganzen Insel. Entsprechend stolz waren die Einwohner von Sommerau, man hatte nicht gerne mit ihnen zu tun, sagte jedenfalls Mechthild, sie seien hochmütig, fast schon überheblich.
Gegen Abend kam er endlich wieder einmal aus dem Wald heraus, vor ihm erstreckten sich eine Menge Getreidefelder. Sein Blick fiel auf eine kleine Stadt. Das musste Keilberg sein, anhand der Felder konnte er es erraten, nirgends gab es so viele. Hier wurde fast das gesamte Mehl des Landes erzeugt. Nur hier gab es eine Getreidemühle, die direkt an einem Bach lag. Er konnte sie auch schon sehen, ein Rad bewegte die Mahlsteine, angetrieben von der Strömung des Baches. Jedenfalls hatte er das so von Mechthild gehört. Eigentlich alles, was er über sein Land und die Insel gelernt hatte, stammte von ihr. Sie hatte ihm Lesen und Schreiben beigebracht, aber bedauerlicherweise kein einziges Buch besessen. Damit er üben konnte, hatte sie sich eines ausgeliehen, vom Dorfbüttel, der besaß nämlich eine Bibel. Leider ging das nicht lange gut, als man bemerkte, dass der fremde Junge die Bibel des Dorfes las, war man über ihn hergefallen, hatte ihn verprügelt und ihm das Buch entrissen. Im Anschluss daran wurde die arme Mechthild schwer gerügt. Sie durfte, zur Strafe, zwei Sonntage nicht zur Bibellesung zum Büttel kommen. Seitdem hatte Dorran kein Buch mehr gesehen. Aber seine Ziehmutter hatte ihm viele Geschichten über seine Heimat erzählt, darunter auch über diese Mühle hier in Keilberg.
Die Stadt war nicht besonders groß, aber die Einwohner angeblich alle sehr reich. Gutes feines Mehl war teuer, in Bergdorf wurden die Körner von Hand gemahlen. Das Mehl war deshalb eher grob, man konnte natürlich Brot daraus backen, aber keinen Kuchen. Den würde er gerne einmal probieren, in seinen sechzehn Lebensjahren hatte er noch nie Kuchen bekommen. Zum Ausgleich dafür hatte Mechthild immer Süßspeisen für ihn gemacht. Meistens Quarkspeisen, der Quark war einfach herzustellen. Manchmal auch Pudding, aber für den musste sie sich ordentlich anstrengen, bis das Mehl fein genug gemahlen war. Entsprechend selten kam er auf den Tisch.
Ihm fiel sein Geburtstagsessen wieder ein, das zugleich auch sein Abschiedsessen gewesen war. Er meinte den Zimtpudding noch zu schmecken. Zimt war ebenso selten und nur durch einen Zufall in Mechthilds Hände gelangt, ein Hausierer hatte es dabei. Wenn er nicht Medizin benötigt hätte, wäre Mechthild nie in den Besitz von Zimt gekommen. Aber so erhielt sie es als Bezahlung. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, ihm den Abschied zu versüßen.
Im Geiste bedankte er sich noch einmal bei ihr, für alles, was sie je für ihn getan hatte.
Keilberg lag auf einer kleinen Insel, jedenfalls sah das so aus. In Wahrheit war das Areal von Bächen umgeben, über die verschiedene Brücken führten. Umgeben war es von einem Palisadenzaun, die Häuser waren allerdings aus Steinen gebaut. Sie hatten bunte Ziegeldächer, das sah Dorran zum ersten Mal. In Bergdorf waren die Dächer mit Stroh gedeckt, auch in Thomasdorf war das so gewesen. Es stimmte offensichtlich, die Leute hier waren reich.
Er ging näher an den Ort heran, wurde aber an der Brücke, die über den Bach führte von einem Wachposten aufgehalten.
Dieser sah ihn misstrauisch an. „Wer bist Du und was willst Du hier?“
Er gab die gewünschte Auskunft. „Mein Name ist Dorran, ich komme von Bergdorf, und suche Arbeit für Essen.“
Der Mann musterte ihn von oben bis unten und entschied sich dann dafür ihn durchzulassen.
„Geh in die Schänke, da hilft man Dir sicher weiter.“
Tatsächlich machte der Wirt ihm ein Angebot. „Du musst aber mindestens eine Woche bleiben, das ist die Voraussetzung. Dann kannst Du hier wohnen, bekommst drei gute Mahlzeiten am Tag und machst alle Arbeit, die ich Dir auftrage. Wenn ich am Ende zufrieden mit Dir gewesen bin, bekommst du für jeden Tag, den du gearbeitet hast einen Wertstein. Einverstanden?“ Dorran überlegte nicht lange und willigte ein. Er hatte es nicht eilig, und ein paar Wertsteine zu besitzen würde ihm auf der Reise in den Norden bestimmt nicht schaden. Für einen Wertstein konnte man sich ein Brot, eine Dauerwurst und einen Krug Bier oder auch Milch kaufen. Die Bezahlung war also nicht besonders großzügig bemessen, aber dafür gab es drei Mahlzeiten am Tag und ein Dach über dem Kopf.
Hier in Bergland, waren die Wertsteine überall gültig. Er erinnerte sich nicht mehr, ob Wertsteine auch in Südland und Waldland die gültige Währung waren. Aber selbst wenn nicht, solange, bis er für seiner Suche vielleicht das Land verließ, konnte er sich davon etwas kaufen. Dorran wusste auch schon, was er sich gerne zulegen würde. Einen Wasserschlauch aus Ziegenleder, mit einer Kordel, damit er ihn um den Hals oder über der Schulter tragen konnte. Und, wenn das Geld reichte, einen schönen Rucksack aus Leder. Dann hätte er endlich die Hände frei beim Wandern. Wenn er sehr viel verdienen würde, wären auch ein paar Stiefel nicht schlecht. Aber notfalls ging er eben barfuß, wenn seine alten Stiefel endgültig auseinanderfielen. Jetzt würde Dorran also das erste Mal selbst Geld verdienen, er hatte in seinem Leben allerdings noch nicht viele Wertsteine gesehen. Eigentlich nur die seiner Ziehmutter, wenn er genau darüber nachdachte. Sie waren aus einem fast durchsichtigen Stein gewesen, keiner sah wie der andere aus. Aber sie funkelten wunderbar in der Sonne. Wenn man sie eine Weile in der Hand hielt, wurden sie warm. Mechthild hatte zwölf Stück besessen, sie aber nie angerührt. Alles was sie benötigten, tauschte sie mit ihren Kräutern und Salben ein. Die Wertsteine vergrub sie unter ihrem Bett, für schlechte Zeiten.
Der Wirt bedeutete Dorran sich zu setzen und stellte ihm eine Schüssel mit dicker Suppe auf den Tisch. Er legte ein auch großes Stück Schwarzbrot dazu. „Das muss für heute reichen, dann zeige ich Dir wo Du schlafen wirst und im Morgengrauen geht es dann los.“ Dorran nickte, er war müde, und aß schweigend seine Suppe und das Brot. Es schmeckte gut, so würzig. Danach führte der Wirt ihn nach draußen und zeigte ihm einen Schlafplatz im Stall. Eigentlich war es eine leere Pferdebox, aber das Stroh roch frisch. Er bekam noch eine Decke, dann war er allein. Er schaute sich um, der Stall wirkte gepflegt und sauber. Erschöpft wickelte er sich in die Decke, rückte sich ein bisschen im Stroh zurecht und war kurz darauf eingeschlafen.
Als eine Magd ihn wieder weckte, war es noch dunkel. Sie nahm ihn mit in die Küche und gab ihm einen Becher warme Milch und etwas Brot. „Wenn Du morgens etwas essen willst, musst Du immer so früh aufstehen wie heute, sonst kommst Du nicht mehr dazu. Wenn der Wirt erst mal auf ist, scheucht er einem den ganzen Tag herum. Ach, übrigens, wie heißt Du eigentlich? Also ich bin die Gretel, jedenfalls sagen alle so zu mir. Getauft wurde ich allerdings auf Margarethe, aber niemand nennt mich so.“ Sie redete auf ihn ein, während er noch versuchte richtig wach zu werden. Aber sie lächelte ihn dabei freundlich an. Er sagte ihr also seinen Namen und bedankte sich für ihren Rat. Sie grinste. „Kein Problem, Dorran, ein seltsamer Name, woher kommt er?“
„Meine Ziehmutter stammt von den Kelten ab, hat sie jedenfalls erzählt, daher dieser Name. Er bedeutet Fremder.“
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