Ein paar Jahre gingen sorglos ins Land. Er jagte mit Streuner, reparierte was anfiel, spielte mit seiner Tochter und vertrug sich wirklich gut mit Melanie. Wenn sie einmal etwas anderes als das bisschen Stoff kaufen mussten, was aber selten vorkam, Melanie war eine sehr bescheidene Frau, hatte er ja ein Vermögen an Wertsteinen in seinem Besitz. Dann wurde seine Frau krank, der Arzt, der aus Mittelstadt gerufen wurde, diagnostizierte Schwindsucht. Sie siechte vor Dorrans Augen dahin. An Melissas fünftem Geburtstag war Melanie schon sehr schwach. Die Krankheit raffte sie in kürzester Zeit dahin. Und bereits im September war er ein trauernder zweiundzwanzigjähriger Witwer, mit einer kleinen Tochter und einem großen Hund.
Nach dem Winter erinnerte sich Dorran, warum er damals aus Bergdorf weggegangen ist. Er wollte seine Leute, sein Volk suchen. Mit sechzehn war er von Zuhause weggegangen, jetzt war er fast dreiundzwanzig Jahre alt. Er könnte wieder Richtung Norden gehen, aber Melissa war noch zu klein, erst fünfeinhalb. Ein oder zwei Jahre wird er wohl noch warten müssen. Aber Streuner war sechs, in zwei Jahren wird er zu alt sein, um jeden Tag kilometerweit zu marschieren. Eine echte Zwickmühle. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, ein Notar traf ein und beanspruchte das Haus für die Familie des ersten Ehemannes. Er versuchte nicht einmal, sich dagegen zu wehren. Er verlangte zwei Wochen Zeit und traf seine Vorbereitungen.
Dorran kaufte sich ein Pferd und einen geschlossenen Wagen, stattete ihn mit dem Hausrat des kleinen Häuschens aus, setzte seine Tochter hinein und rief nach Streuner. Er sah sich noch einmal um, hier war er glücklich gewesen. Seine Tochter ist in diesem Haus auf die Welt gekommen, seine Frau gestorben. Es fiel ihm dennoch überraschend leicht, wegzugehen. Er war wieder unterwegs, diesmal aber luxuriös mit Pferd und Wagen, nicht mehr zu Fuß. Selbst Streuner fuhr viel Strecken im Wagen mit, er wollte nah bei Melissa sein, die er hingebungsvoll liebte. Das ganze Frühjahr und den Sommer hindurch fuhren sie von Ort zu Ort. Sie hielten in kleinen Ortschaften, Dörfern, auf Bauernhöfen, überall wo es Menschen gab. Dort las Dorran den Leuten Briefe vor und schrieb auch welche für sie. Im Gegenzug erhielten sie Nahrungsmittel, mal eine Decke oder auch abgelegte Kleider für Melissa. Dem Kind gefiel die Reise, sie wirkte immer glücklich und ausgeglichen. Er hatte es sich anstrengender vorgestellt mit einem kleinen Mädchen zu reisen, aber seine Tochter war pflegeleicht.
Im September kamen sie dann in die Hauptstadt von Bergland, Mittelstadt. Die vielen Leute erschreckten ihn und auch Streuner hatte so seine Probleme. Die meiste Zeit blieb er im Wagen und wirkte unglücklich. Sie mussten hier wieder weg. Ende September verließen sie Mittelstadt ohne Bedauern und bewegten sich weiter in nördlicher Richtung. Melissa fand die Stadt furchtbar, so laut und unübersichtlich, ihre kleine Welt bestand aus ihrem Zuhause, dem geschlossenen Wagen, Papa und Streuner. Damit fühlte sie sich wohl. Sie hatte die lange Reise bis jetzt als großes Abenteuer empfunden. Aber Papa wollte irgendwo den Winter verbringen. Er hat gesagt, dann sei es zu kalt zum Reisen. Ihr hätte es nichts ausgemacht, sie fror selten. Da Papa das wusste, konnte es eigentlich nur um Streuner gehen. Sie erinnerte sich, dass er im Winter immer nur hinausgegangen ist, um sein Geschäft zu machen. Aber bevor Streuner frieren würde, wäre sie zu manchen Zugeständnissen bereit. Dennoch war sie froh, als Papa sie wieder auf den Wagen setzte und die Stadt verließ.
In Kirchberg weinte der vierjährige Daniel am Bett seiner Mutter, sie war so kalt und gab ihm keine Antwort, sosehr er sie auch mit dem Finger anstupste, sie rührte sich nicht, was soll er denn nur tun. Es klopfte an der Tür, er rannte fast erleichtert hin, ein Erwachsener wird ihm helfen können. Die alte Nachbarin stand davor, einen Topf mit Suppe in der Hand. Als er ihr erzählte, dass Mama sich nicht mehr rührte, stellte sie den Topf auf den Küchentisch und befahl ihm sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie würde nach Mama schauen. Als sie zurückkam, weinte sie ein bisschen, nahm ihn bei der Hand und zog in zur Tür.
„Was ist mit Mama?“ Fragte er.
Die Nachbarin sah ihn mitleidig an. „Sie ist gestorben, mein Kleiner, Du kommst jetzt erst einmal mit zu mir, bis wir wissen, was jetzt aus Dir wird. Ich muss dem Pfarrer Bescheid geben, der wird schon wissen, was zu tun ist.“
Der Pfarrer redete etwas von Familie suchen und Waisenhaus, beides hörte sich für Daniel nicht besonders gut an. Eigentlich wollte er nur zurück zu seiner Mama, aber das geht nicht, sagt die Nachbarin, sie sei tot. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit entwischte er in der nächsten Zeit der alten Frau und trieb sich am Dorfrand oder im Wald herum. Sie mussten ihn erst einmal finden, bevor sie ihn wegbringen konnten.
Im Oktober schneite es das erste Mal, nicht viel und nicht lang andauernd, aber der Winter stand vor der Tür, sie brauchten eine feste Unterkunft. Als sie durch Kirchberg kamen, hörte Dorran von einem kleinen Haus mit Garten, das zu vermieten war. Es lag außerhalb des Dorfes, direkt am Waldrand, etwas abgelegen vielleicht, aber ideal für Streuner. Er mietete es bis zum Frühjahr, wobei der Vermieter es ihm auch gerne verkauft hätte, aber dafür war Dorran noch nicht bereit. Sein Ziel war immer noch der Norden, seine Leute.
Melissa spielte fast immer draußen, Papa musste arbeiten, für den Winter, sagte er, da war ihr langweilig im Haus. Sie ging meist zu ihrem Lieblingsplatz im Wald, einem Großen aufrecht stehenden Stein, um den ein kleines Stück Blumenwiese einen freien Platz im Wald schuf. In der zweiten Woche in Kirchberg traf sie Daniel das erste Mal, ihm gefiel es hier auch gut. Also beschlossen die beiden Kinder, sich jeden Tag an diesem Platz zum Spielen zu treffen. Daniels Mama ist genau so gestorben wie ihre eigene, an der Schwindsucht. Was auch immer das für eine Krankheit war, hatte sie doch jedem von ihnen die Mutter geraubt. Weder Melissa noch Daniel erzählten irgendjemanden von ihrem geheimen Treffpunkt, also blieben sie wochenlang ungestört.
Bis Dorran genug Holz und Vorräte zusammen hatte, war es Mitte November. Melissa, für die wenig Zeit blieb im Moment, spielte viel draußen, er musste sie immer wieder ermahnen einen Mantel anzuziehen. Dieses Mädchen fror niemals, war durch und durch gesund. Trotzdem machte er sich Sorgen, war doch ihre Mutter der Schwindsucht erlegen. Melissas Verlust, glaubte er nicht auch noch ertragen zu können. Jetzt da er alles beisammen hatte, nahm er sich fest vor, mehr auf sie zu achten. Durch einen glücklichen Zufall erfuhr er von einem durchreisenden Buchverkäufer und erwarb sämtliche Werke von ihm. Das waren exakt drei Stück, um genau zu sein. Eine Beschreibung des Berglandes, eine Bibel und ein Buch ohne Titel, das Deckblatt fehlte. Er verwahrte sie sorgfältig, um im Winter seiner Tochter Lesen und Schreiben beizubringen. Später an diesem Tag ließ er Melissa im Haus zurück und ging mit Streuner jagen. Der Hund erwischte einige Kaninchen, Dorran erlegte ein Reh mit einem seiner Pfeile. Er schleppte alles nach Hause, um es zu salzen und zu räuchern. Ein wenig von dem Reh würde er für einen Braten verwenden. Ja, er hatte genaue Vorstellungen, aber als er daheim ankam, war Melissa weg.
Streuner war aufgeregt und sprang um ihn herum, wo konnte sie nur sein.
„Wir müssen Melissa suchen, Streuner, Such!“ Der Hund rannte los, geradewegs in den Wald hinein. Dorran hinterher. Nach ein paar Metern sahen sie Melissa schon, sie saß ohne Mantel im Gras und pflückte etwas, und sie war nicht allein. Neben ihr saß ein Junge, etwa in ihrem Alter, der ebenso wie Melissa keinerlei Überkleidung trug. Die beiden unterhielten sich angeregt und schauten erst auf, als Streuner in ihre Mitte sprang. Melissa begrüßte den Hund, der Junge sprang auf und ging ein paar Schritte zurück.
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