»Sie hat keine Luft mehr bekommen, das hat sie zutiefst erschreckt, siehst du den Gesichtsausdruck und die Hand am Ausschnitt? Offenbar ist sie in ihrem Entsetzen aufgesprungen und umgefallen. Und dann war es auch schon vorbei. – Wo ist die Katze?« Und wieder ging es zurück in den Laden.
»Das ist ja mal ein eindrucksvoller Brocken!« Richard zog einen Einweghandschuh aus der Hosentasche und drückte an verschiedenen Stellen auf den Katzenkörper. »Steinhart. Sie war schon völlig steif, als sie hier hineingelegt wurde. Siehst du, hier – die Pfoten wären sonst nach unten gesunken.« Er tastete weiter. »Auch hier unter dem Hinterteil ist ein größerer Hohlraum von mehr als einer Handbreit Tiefe. Die Truhe ist groß und nicht voll, die Katze hat einfach hineingepasst. Aber sie ist weder darin gestorben noch erstarrt. Also hat sie jemand eine ganze Weile nach ihrem Tod hier deponiert. Humm, aus Freundschaft macht man so etwas jedenfalls nicht. Warum aber überhaupt? Eine Ahnung, wem dieses Tier gehört hat?« Olivia schüttelte schweigend den Kopf.
»Du hast gesagt, Edith Munroe lebte hier mit ihrer Schwester Helen Campbell. Mrs Campbell ist nicht zuhause, richtig? – Gut.« Richard sah sich weiter um: »Diese Stoffe und Wollknäule auf den Tresen sind dein Werk, nehme ich an?«
»Ja, ich arbeite gerade für Wangari, Urlaub von meinem Schreibtisch sozusagen. Es hat wieder Spaß gemacht, deswegen störte es mich auch nicht, dass ich allein blieb. Aber es war nicht gut, dass ich die Situation einfach hingenommen habe. Vielleicht hätte ich Edith das Leben retten können, wenn der Notarzt früher gekommen wäre.«
»Wir wissen es nicht. Wenn ihre Schwester zuhause gewesen wäre, wäre es vielleicht auch nicht passiert… das Leben folgt seinem eigenen Rhythmus. Ich möchte mich im Haus umschauen, kommst du mit?« Richard sicherte jetzt seinerseits die Ladentür, bevor er die Treppe hinaufstieg. Sie war schmal, denn an der Wand entlang bis kurz über Kopfhöhe war Wolle gestapelt, das ganze Treppenhaus hinauf bis in den zweiten Stock einschließlich der Flure, von denen die Türen abgingen. Richard ging mit einem flüchtigen Blick durch alle Räume im ersten Stock und weiter bis zu dem kleinen Toilettenraum hinter dem Bad oben im zweiten Stock. Jetzt begann er, sich in Ruhe umzuschauen ohne etwas zu berühren, im Bad, dann in den beiden Wohnräumen. »Welche Schwester wohnt deiner Einschätzung nach in diesen beiden Zimmern?«
Der Wohnraum ging zur Straße hinaus, das Schlafzimmer nach hinten, beides war weißgestrichen und mit dunklen Möbeln eingerichtet, sparsam, aber doch wohnlich. Keine Zimmerpflanzen. Ein kleines Bücherregal, an den Wänden Bilder, das Format groß, leuchtend die Farben. Alle zeigten Stadtlandschaften in einfachen klaren Formen, aber fast jedes einzelne Feld war in sich noch einmal gemustert. Die Formen waren so angeordnet worden, dass das Auge unweigerlich zu einem Punkt sehr weit hinten gezogen wurde, beinahe hinter das Bild, dachte Olivia. Wenn die Bilder am Boden lägen, würde man vielleicht hineinspringen wollen wie in die Bilder des Pflastermalers in ›Mary Poppins‹.
»Hier hat, glaube ich, Edith gewohnt… diesen Maler mochte sie offenbar besonders. Ich denke jedenfalls, dass alle Bilder von demselben Künstler sind. Vielleicht ein Freund aus früheren Zeiten, heute malt man eher anders.«
»›VC‹ – immer dieselben Buchstaben«, teilte Richard mit. »Mrs Munroe sah abends eher fern oder hörte Musik, dürfen wir aus den Geräten schließen. Ihre Plattensammlung und Filme sind staubsicher hinter diesen Schranktüren, nehme ich an. Es ist mir von Rechts wegen nicht erlaubt, sie zu öffnen, also lasse ich es im Moment auch lieber. – Komm, wir gucken uns in Mrs Campbells Räumen um, bevor sie zurückkommt.«
Im Stockwerk darunter war alles vollkommen anders. Es begann damit, dass die Räume untereinander verbunden waren, einschließlich des Badezimmers. Helen hatte ihre Wände farbig gestrichen: das Zimmer zur Straße in einem dunklen warmen blaugrau, den Raum zur Balustrade in einem hellen blaugrau, die Fensterfronten beider Räume und der Durchbruch strahlten in einem stillen Lindgrün, dass sich in sehr hellem Ton unter der Decke wiederholte. Die Möbel schienen zusammengesucht und alt zu sein, in den verschiedensten Farben ihrer Umgebung anempfunden. Beide Räume waren Wohnräume, auch wenn im vorderen ein Bett stand. Und überall war Wolle, lagen Muster, gestrickt, gezeichnet, Bücherstöße und Wollkataloge. Neben der offenen Tür auf den Balkon hinaus stand eine Strickmaschine, ein auberginefarbenes Teil war in Arbeit. Und zwischen all dem standen Zimmerpflanzen, der Blick auf den Balkon hinaus war wie der Blick in einen Garten – Pflanzen überall. »Dies muss Helen Campbells Reich sein«, entschied Olivia, »jetzt verstehe ich auch, warum sie so wenig im Laden ist.«
Richard nickte zustimmend, er hatte sich um anderes gekümmert. »Ich denke, es sieht nicht nach einem überstürzten Aufbruch aus. Sie ist einfach gegangen, um nachher weiterzuarbeiten. Mehr steht uns im Moment nicht zu, festzustellen.« Sie gingen wieder hinunter. Helen Campbell kam noch immer nicht.
Vor dem Küchentisch stehend zog Richard sein Handy aus der Tasche und bestellte ein Team zur Tatortsicherung. »Du hältst also Mord für möglich?« erkundigte Olivia sich anschließend.
»Ich halte es für möglich, ja.« Sie waren wieder durch die Küche hinausgegangen. »Der Gesichtsausdruck der Toten und die Hand am Ausschnitt können auf eine Vergiftung deuten, die Ersticken hervorruft«, fuhr Richard fort, »sie können natürlich auch die Folge einer Krankheit sein, von der wir nichts wissen. Da wird uns der Hausarzt weiterhelfen. Außerdem will ich wissen, woran die Katze drüben in der Truhe gestorben ist. Ihr Kadaver ist mir zu viel des Zufalls.«
Mit den Händen in den Hosentaschen musterte er die Reste auf dem Gartentisch. »Das alles sieht völlig normal aus.« Er warf einen sorgfältigen Blick auf den Küchentisch und blieb schließlich in der offenen Tür stehen, beide Tische im Blick. »Aber es ist nicht normal. Schau dir den Küchentisch an: Zwei Personen haben dort den Lunch vorbereitet. Sie haben das Notwendige hinausgetragen und alles andere stehen und liegen lassen. Das spricht für einen Gast. Wären es die beiden Schwestern gewesen, hätte eine zumindest die Salatabfälle aufgeräumt, während die andere die Schale und das übrige hinaustrug. Das schließe ich aus der ansonsten sehr ordentlichen Küche und den Augusttemperaturen. Bei dieser Hitze beseitigt ein ordentlicher Mensch die Essensreste. Gut. Wenn nun ein Gast aufbricht, zumal wenn er wie hier bei den Vorbereitungen zur Mahlzeit mithilft, ist das Verhältnis normalerweise so, dass man ihn zur Tür begleitet, das heißt hier: zur Ladentür. Käme Edith Munroe nun zurück, würde sie als erstes, vermutlich völlig mechanisch, die Reste hineintragen. So war es aber nicht, sie setzte sich in ihren Sessel. Unter welchen Umständen ist das plausibel?«
»Sie fühlte sich nicht gut.«
»Hätte sie dann nicht den Sessel gleich hier bei der offenen Tür genommen, statt um den Türflügel herum zu ihrem Sessel am Tisch zu gehen?«
Olivia überlegte sich die Situation: »Wahrscheinlich hätte sie das, noch wahrscheinlicher wäre sie in der Küche auf einen Stuhl gesunken, es ist drinnen kühler, das ist angenehm, wenn einem nicht gut ist.«
»Stimmt.«
»Sie blieb demnach sitzen, als ihr Gast aufbrach, weil sie sich bereits nicht gut fühlte.« Olivia wurde beklommen bei der Vorstellung.
»Oder sie war schon tot«, stellte Richard sachlich fest. »In dem Fall sind zwei Rückschlüsse möglich: Der Gast floh in panischem Entsetzen. Dagegen spricht sein Sessel hier am Gartentisch, er steht zu nah und gerade am Tisch. So sieht das nicht aus, wenn jemand in Panik aufspringt. Zu der korrekten Position des Sessels passt die geschlossene Verbindungstür zwischen Wohnbereich und Geschäft. Ein derart geordneter Abgang angesichts einer toten Gastgeberin – lass es mich so neutral wie möglich ausdrücken – erinnert mich wieder daran, dass ich Mord nicht ausschließen will. Man kann aber auch sagen: Der Mörder oder die Mörderin verdrückte sich so unauffällig wie möglich, als das Ziel erreicht war.«
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