»Doktor, ich habe einen befreundeten Inspektor beim Yard, würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz mit ihm zu sprechen?«
»Nein, natürlich nicht. Von einem neuen Notfall wird mein Kollege draußen mich verständigen, bis dahin habe ich Zeit.«
Olivia sah in den Garten hinaus, während sie den Gesprächsteilen in ihrem Rücken zuhörte. »Chief Inspector Bates, hier Doktor Mortimer vom Royal Brompton Hospital. …Ja, ich stehe hier neben der Leiche einer etwa sechzigjährigen Frau… vermutlich Herzversagen, sicher sagen kann ich es nicht… nein, Mrs Lawrence erwähnte, dass die Tote mit zu niedrigem Blutdruck kämpfte, ich sehe eine fast leere Flasche Granatapfelsaft, keinen Alkohol… wenn Sie mich so direkt fragen: in den meisten Fällen finde ich Herztote in ihrem Sitzmöbel, sie fühlen sich schwach, lehnen sich eher zurück und sacken dann weg. Diese Frau ist aufgestanden, sie hat eine Hand am Kleidausschnitt, als fehle ihr Luft… ich kenne ihr Krankheitsbild nicht, das kann alles ganz natürlich so abgelaufen sein, aber ich weiß es nicht aus meinem minimalen Kenntnisstand heraus… ja, selbstverständlich, Chief Inspector, ich gebe das weiter. Und, Chief Inspector, ich schließe der Toten die Augen und den Mund, noch geht das, mehr Veränderungen nehme ich nicht vor.«
Es klickte kaum hörbar. In der neuen Stille drehte Olivia sich wieder Doktor Mortimer zu und nahm ihr Handy zurück. »Chief Inspector Bates bittet mich, Ihnen auszurichten, dass er kommen wird. Er weiß nicht genau, mit welchem Verkehrsmittel, dadurch kann er die Zeit nicht vorhersagen. Aber er ist auf dem Weg.« Mit ruhigen Bewegungen schloss Doktor Mortimer Edith Munroe die Augen und schob den Unterkiefer nach oben. Es war eine Geste des Respekts. Nach dem Aufstehen verweilte er einen ganz kurzen Moment, ehe er sich Olivia wieder zuwandte und eine Karte aus seiner Brusttasche zog: »Wenn Sie das Chief Inspector Bates bitte geben, dann kann er mich jederzeit erreichen.«
Olivia begleitete ihn zur Tür und schob, als sie hinter ihm die Tür sanft geschlossen hatte, entschlossen den oberen Riegel wieder vor, er war noch unter Augenhöhe über dem Türgriff angebracht, also wirklich schnell beiseite geschoben. Was nun? Vor allem: wo war Helen? Kälte kroch in ihre Glieder, zog durch die Knochen. Bevor sie sich ganz starr fühlte, rief sie sich wieder zur Ordnung und kommandierte sich in die oberen Stockwerke. Sie eilte die erste Treppe hinauf, schaute in die beiden Räume, niemand. Hinaus auf die umlaufende Balustrade und durchs Bad zurück. Schon war sie im 2. Stock. Dasselbe Spiel. Kein Menschen nirgendwo, keine tote Helen. Auch wenn sie nicht daran geglaubt hatte, war sie doch erleichtert, dass wirklich keine tote Helen da war. Es gab noch den Garten. Schon war sie wieder auf der Treppe und unten in der Küche. Etwas langsamer ging sie hinaus, an der Toten vorbei auf die kleine Rasenfläche. Sie sah unter die größeren Sträucher, hinter den Kompost und in den Gartenschuppen, alles menschenleer. Helen war einfach nicht da. Also war sie höchstwahrscheinlich sehr lebendig in London unterwegs, soweit alles gut. Olivia stand nun mitten auf dem Rasen, blickte um sich, am Haus mit den angebauten Holzbalustraden hinauf, die sie ein wenig an die Südstaaten drüben in den USA erinnerten. Allmählich beruhigte sie sich, ließ den Oberkörper vornüberfallen und die Arme hängen. Wenige Minuten später fühlte sie sich ausreichend entspannt, um sich zu fragen, was sie als nächstes machen könnte.
Allem Anschein nach hatte Edith Munroe die letzte Spanne Leben mit einer Besucherin zwischen der Küche und dem Sitzplatz draußen unter der Balustrade verbracht. Das war ja ein nettes Vorurteil, stellte sie über sich selbst empört fest: nur weil der Gast beim Salat-Zubereiten geholfen hatte, musste es noch keine Frau sein! Sie hatte sich Edith Munroe allerdings auch nie mit einem Mann zusammen vorgestellt, es passte nicht. Noch ein Vorurteil? Also: ob Mann oder Frau – was gab es zu sehen? Ausführlich musterte sie erneut den Küchentisch, die Spüle, die versprengt herumstehenden Stühle, es waren drei und zwei Hocker, alles wirkte völlig normal; wenn da draußen nicht eine Tote läge, würde sie keinen Gedanken an diese Details verschwenden. Doch da dem so war, fotografierte sie schließlich den Tisch im Besonderen und die Küche im Allgemeinen, auch den Tisch draußen und die Leiche zwischen den Gartenmöbeln, stellte den Weidensessel, den sie umgestoßen hatte, wieder an seinen Platz und grübelte.
Als erstes verwarf sie die These, die ihr beim Warten auf den Notarzt durch den Kopf geschossen war. Edith war nicht über die Katze erschrocken und daraufhin nach hinten gelaufen, denn die Tür zwischen Laden und Wohnhaus war geschlossen gewesen. Das tat niemand, der in Panik unterwegs war. Also war sie höchstwahrscheinlich von ihrem Sessel am Tisch aufgestanden und gleich darauf umgefallen, tot oder jedenfalls beinahe. Wo war die zweite Person zu diesem Zeitpunkt gewesen? War Helen diese zweite Person gewesen, die gleich nach dem Lunch zu einem Termin musste und der Schwester das Aufräumen überlassen hatte? Durchaus möglich. Oder es war ein Freund, eine Freundin von Edith, der oder die aus dem gleichen Grund einfach gegangen war… oder war die fragliche Person weggelaufen, als Edith zusammenbrach… in Schrecken oder Panik machen wir die unsinnigsten Sachen. Schließen wir dann auch Türen hinter uns wie die zwischen Wohnbereich und Laden? Schon möglich, Schrecken hinter geschlossenen Türen ist vielleicht eher gebannt. Oder die zwei hatten eine Meinungsverschiedenheit gehabt, der Gast war gegangen und Edith zusammengeklappt, als sie endlich aufstand… jedenfalls hatte er bei der Vorbereitung geholfen, es standen zwei Wassergläser zwischen den Salatresten auf dem Küchentisch.
Das Abendläuten von der nahen Kirche ließ sie im Grübeln innehalten, zu ihrer Überraschung lenkte der Glockenklang ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden dieses kleinen verborgenen Gartens. Rosen blühten, flache Stauden in Blau, späte weiße Iris, Insekten schwirrten herum und Vögel huschten durch Ranken an der Mauer, die Kletterrosen am Haus summten vor Leben, kleinblättriger Sommerflieder wuchs in einen roten Japanischen Ahorn… sie horchte auf, eilte nach vorn, Richard stand schon vor der Tür!
»Donnerwetter! Bist du geflogen?«
Richard Bates grinste breit: »Fast, ein Kollege hat mich auf seinem Motorrad mitgenommen.« Da stand der Freund, deutlich größer als sie und genauso schlank, mit schmalem Gesicht und einem leicht kantigen Kinn, grünblauen Augen und braunen Haaren, die feucht am Kopf klebten genauso wie sein Hemd am Körper. Motorradschutzkleidung im August war entschieden zu heiß, stellte sie halbbewusst fest. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie ihm allen Schweiß missachtend beinahe um den Hals gefallen wäre. Doch in der gegenwärtigen Lage hätte das äußerst unprofessionell ausgesehen. Also unterdrückte sie diesen Wunsch. Er bemerkte ihre Erleichterung trotzdem und verstand sie. »Du bist ganz allein in diesem Haus? Seit wann?«
»Seit wann… lange. Heute Vormittag war ich in der National Art Library, irgendwann nach zwei Uhr bin ich da weggegangen; auf dem kleinen dreieckigen Platz auf ungefähr halbem Weg zwischen dort und hier habe ich mich auf eine schattige Bank gesetzt, Skizzen gemacht und etwas gegessen, es sind viele Skizzen… Der Weg dauert zweimal knapp zehn Minuten, wenn man nicht trödelt wie ich heute… ich weiß es nicht sehr genau, irgendwann zwischen halb vier und vier bin ich wahrscheinlich hier angekommen.«
»Jetzt haben wir zehn nach sechs. Also bist du seit ungefähr zweieinhalb Stunden hier. Zeig mir bitte als erstes die Tote.«
Tiefes Mitleid erfüllte Olivia, als sie Richard zusah, wie er Edith Munroe genau musterte. Sie war so freundlich gewesen, so klug und entspannt. »Dieser zu niedrige Blutdruck – er hat ihr, glaube ich, keine großen Probleme gemacht. Die Kreislauftabletten wirkten sehr gut und abgesehen davon war sie gesund, soweit ich weiß.«
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