"Würden Sie mir ein Sträußchen verkaufen?"
"Aber jerne, mein Herr, wenn's sin muss ooch zwee." Sie lupfte das Tuch des Korbs, hielt Liebknecht die Veilchen hin und sah seinen Trauring, als er bezahlte. Mütterlich blinzelte sie ihm zu: "Finde ick immer janz besonders nett, wenn verheiratete Männer ..."
"Guten Abend!", rief Liebknecht lachend und sprang rasch auf den Bahnsteig.
Auf dem Weg nach Hause wurden ihm die Finger kalt, und er merkte, dass er noch immer den Strauß in der unbehandschuhten Hand trug. Ehe er ihn sorgfältig in der Aktentasche unterbrachte, roch er noch einmal daran und meditierte fröhlich, selbst ein rauer Winterabend kann zarte Veilchen bereithalten.
4 Von Bienen und Menschen
Nachdenklich legte Liebknecht die Briefblätter auf den Schreibtisch. Ihm wurde nicht bewusst, dass er selten so scheinbar untätig saß und wie auch Stille verschiedene Färbungen haben kann; in diesem mit Büchern, Mappen und Papieren vollgestopften Arbeitszimmer verschmolzen die vielfältigen Geräusche der Großstadt zu einem fernen Summen.
Liebknecht schreckte aus seinen Gedanken. Auf der Diele hörte er Sophie und Heli, den Ältesten, heftig flüstern. Die Freude über den vor ihm liegenden Brief verleitete Liebknecht zum Nachgeben. "Was gibt's?", rief er aufgeräumt. "Bringet den Streit vor den Kadi, auf dass er ein salomonisch Urteil fälle!"
Die Tür öffnete sich, ein wenig streng blickte Sophie auf den Zwölfjährigen. "Ich habe gesagt, er soll bis zum Abendessen warten. Er meinte, das kenne er schon, fast immer müsse der Papa gleich nach dem Essen fort."
Leider hat er recht, dachte Liebknecht, aber heute Abend kann ich einmal zu Haus bleiben. "Wenn es Helmi so eilig hat, wird es wohl sehr wichtig sein." Aufmunternd zwinkerte er dem Sohn zu. "Sprich, Filius, was bedrückt dich?"
So unvermittelt aufgefordert, fand Helmi nicht gleich den rechten Anfang. In dem großen Sessel wirkte er kleiner, als er war, nachdenkend starrte er auf seine Stiefelspitzen. Die waren grau gestoßen vom Fußballspiel mit einer Blechbüchse. Verstohlen klemmte er die Füße hinter die Vorderbeine des Sessels.
Leise zog sich Sophie zurück, im Gefühl, Helmi wolle mit dem Vater allein sein. Um ihren kleinen vollen Mund war ein leicht unzufriedener Zug. Beim nächsten Mal werde ich es schwer haben, Helmi vom Arbeitszimmer fernzuhalten. So unnachsichtig Karl in großen Fragen ist, so leicht gibt er in den kleinen Dingen nach. Nicht zuletzt wohl auch, weil er den Kindern nie genug Zeit widmen kann. Ich hatte nicht erwartet, es leicht zu haben mit den drei Kindern. Aber im Großen und Ganzen ist es besser gegangen, als ich geglaubt hatte. Es ist Karls Verdienst. Wen er liebt, den mögen sie ebenfalls. Vielleicht mögen sie mich auch deshalb, weil ich nicht versucht habe, mich bei ihnen einzuschmeicheln. Zuneigung muss langsam wachsen. Julia war lange krank, sie haben die Mutter über Gebühr entbehren müssen. Als Sophie daran dachte, wie herzlich sie von den Dreien begrüßt wurde, als Karl sie zum ersten Mal vorstellte, hellten sich ihre Züge auf. Sie sprach sich Mut zu, es wird schon weiter gut gehen, auch wenn ich Disziplinlosigkeiten nicht akzeptiere.
Liebknecht half dem Sohn mit der Frage: "Hat es Ärger in der Schule gegeben?"
Dankbar nickte Helmi. "Mit Studienrat Kreftich."
"Warst du vorlaut?"
Vorwurfsvoll sah Helmi den Vater von unten herauf an. "Schuld bist du, Papa."
Liebknecht unterdrückte ein Schmunzeln. "Da bin ich aber gespannt."
"Schuld hat auch unser Primus, Max Steinert, der immer mit seinen Einsen in Geschichte prahlt."
"Es wäre schön, wenn du in Geschichte auch Einsen hättest."
"Bei Kreftich? Da kann ich mich Kopfstellen. Bin doch der Sohn vom Liebknecht."
"Also weiter. Schuld bin ich, schuld hatte Max, nur mein lieber Helmi war unschuldig."
"Es war so!" Auf Helmis Jungenstirn bildeten sich Falten. Er wollte schon bei der Wahrheit bleiben, aber jede Geschichte lässt sich so und so erzählen. "Fritz Heimburger fragt den Alex Stibbek, ob er gestern Nachmittag im Park mit Käthchen Heiland über platonische Liebe debattiert hat. Da sagt Steinert, was wisst ihr Affen von Plato, dem größten Philosophen Griechenlands. Darauf ich: erstens heißt er Platon, weil er ein Grieche ist; zweitens lässt sich darüber streiten, ob er der größte war. - Steinert schreit, ob etwa die Idee vom Guten, der Schönheit, Tugend und Wahrheit nicht das Größte ist? Brülle nicht, sage ich, Platons Ideen sind ganz schön, aber bloß für die Aristokraten, weil er selbst einer war. Alles für die Reichen, nichts für die Sklaven. Es war ganz still geworden in der Klasse, und alle grinsen so verdächtig. Ich drehe mich um, Studienrat Kreftich steht hinter mir. Wo hast du denn diese Weisheit aufgegabelt? fragt er. - Bei meinem Vater, sage ich. - Hm, hm, sagt er, wenn dem so ist, müsste dein Herr Vater eigentlich wissen, dass etliche seiner Wolkenkuckucksideen von Platon stammen. - Und der hat viel von Sparta übernommen, sage ich schnell, mein Vater meint, etwas Gutes zu übernehmen ist keine Schande, nur darf man nicht vergessen ... - Schließ dein vorlautes Mundwerk, schnauzt er, ich kann deinem Vater nicht verbieten, dir seine Utopien einzutrichtern, doch hier in der Schule behalte den Schnickschnack für dich, verstanden? Der Steinert grinst mich so schadenfroh an, da zischele ich ihm zu, von dir lasse ich mir noch lange nicht den Mund verbieten. - Der Studienrat muss es gehört haben und verkündet: Helmut Liebknecht, wegen ungebührlichen Betragens schreibe ich dir einen Tadel ins Klassenbuch!" Aufgerichtet im Lehnsessel, hatte Helmi berichtet, nun sah er den Vater erwartungsvoll an.
Liebknecht wusste, der Älteste hoffte auf Freispruch, womöglich den Tadel umgewandelt in einen Orden Pour le Mérite. Er hatte sich wacker geschlagen. Und, für einen Zwölfjährigen erfreulich, er hatte Wesentliches von der Unterhaltung neulich behalten. Sie waren, den Ursprung des Wortes Akademie im Lexikon suchend, auf Platon gekommen. Die Jugend sieht alles absolut, zu differenzieren fällt ihr schwer. Wie macht man dem Bürschlein klar, dass es sich trotz seiner grundsätzlich richtigen Einstellung nicht eben geschickt verhalten hat? Selbstverständlich ist dieser Kreflich ein Reaktionär. Aber in welcher preußischen Schule gibt es schon sozialistische Lehrer?
Freundschaftlich sagte Liebknecht: "Besser wäre es natürlich gewesen, du hättest unsere Sache so vertreten, dass der Studienrat dir keinen Tadel geben konnte."
"Aber Kreflich hat nun mal einen Pik auf mich." Der Sohn ließ bekümmert die Unterlippe hängen.
"Da ist ein Bienenstock.", Liebknecht dachte belustigt über das Gleichnis nach, während er es langsam entwickelte. "Ich brauche den Honig zum Leben, außerdem schmeckt er süß.
Freiwillig geben ihn die Bienen nicht her, und Stiche schmerzen."
"Dann sollen sie ihren Honig behalten", folgerte Helmi.
Liebknecht lachte herzhaft, "Ich sagte doch, wir brauchen ihn zum Leben. Das ist vorausgesetzt. Bleibt also zu überlegen, wie man recht viel Honig ohne Stiche bekommt."
"Man muss eben die Bienen ausräuchern!"
Wieder lachte Liebknecht über die Jungenlogik. "Dann sind die Bienen weg und für immer der Honig."
"In Biologie haben wir gelernt, dass Imker nicht gestochen werden."
Jetzt hat er dich beinahe hereingelegt, dachte Liebknecht mit einigem Stolz auf den Sohn. "Wie stellt es der Imker an, damit er nicht gestochen wird? Er setzt einen Hut auf, schützt sein Gesicht mit Gaze und zieht sich Handschuhe an."
"Und was hat das alles mit Studienrat Kreflich zu tun?" Dem Gesicht Helmis war anzusehen, dass er sich ein wenig dumm stellte.
Liebknecht drohte ihm lächelnd und fuhr fort: "Wir leben in einer Gesellschaft, die uns feindlicher gesonnen ist, als es die braven Bienen dem Imker sind. Aber ihren Honig, das Wissen, müssen wir ihr entreißen. Wissen ist Macht, eine berühmte Schrift deines Großvaters. - Ja, also, man reizt die Bienen nicht, genauso wenig wie Herrn Studienrat Kreflich. Und wenn man sich genügend geschützt hat, ich meine, innerlich gewappnet, dann kann einen auch ihr drohendes Summen nicht provozieren."
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