Plötzlich klopfte es erneut an der Tür und Mario wurde aus seinen Gedanken gerissen. Genervt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte jetzt keinen Kopf für weitere Probleme und wollte im Grunde nur allein sein. Doch im gleichen Augenblick rief er sich selbst zur Ordnung. Schließlich konnten Lisa und die anderen nichts dafür, dass ihn gerade seine Vergangenheit einholte.
„Ja, bitte“, sagte er mit fester Stimme und atmete tief durch.
Mit aller Kraft versuchte Mario, den Anruf und seine Erinnerungen zu verdrängen. Und als kurz darauf seine Verkäuferin Lisa Farber lächelnd das Büro betrat, hatte er sich so weit im Griff, dass er ihr für die Störung nicht gleich den Kopf abreißen wollte.
„Lisa, was gibt es denn noch?“, fragte er ernst und griff nach einem Papier, damit es so aussah, als hätte er zu tun. „Kann es nicht warten?“
„Ich fürchte nicht“, erwiderte Lisa entschuldigend. „Gerade ist eine Frau angekommen, die Matthias de Luca sprechen möchte. Als ich ihr sagte, dass dieser heute frei hat, wollte sie mit Ihnen sprechen.“
Verwirrt sah Mario Lisa an. Normalerweise benutzte sie diese geschäftsmäßige Anrede nur, wenn jemand von den anderen Mitarbeitern in der Nähe war.
„Hat sie gesagt, wie sie heißt? Oder was genau sie will?“
„Sie heißt Sophie de Luca“, erklang eine weibliche Stimme an der Tür, bevor Lisa die Chance hatte zu antworten. „Und sie ist hier, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen.“
Überrascht setzte sich Mario in seinem Stuhl auf und sah die Besucherin ungläubig an, deren lange blonde Haare ihr offen über die Schulter fielen.
„Sie sind Matthias‘ Cousine?“, fragte er verblüfft und starrte sie ungläubig an, während Lisa leise den Raum verließ. Das kann doch nicht deren ernst sein , ging es ihm durch den Kopf. Wie bitte soll ich mit dieser Frau zusammenarbeiten? Sie sieht kaum älter aus als 18.
Das kann ja heiter werden , dachte er frustriert und ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen. Er hatte sich die Schwester seines Chefs ganz anders vorgestellt. Älter und geschäftsmäßiger. Nicht so ein junges Ding, das lieber selbst shoppen ging, als sich um den Verkauf dieser Sachen zu kümmern. Und dann auch noch ihre Garderobe , dachte er spöttisch. Weiße Hose, ein rotes T-Shirt und Sandaletten. Kaum das richtige Outfit, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen und eine leitende Funktion einzunehmen. Auch, wenn ihr die Sachen sehr gut standen.
„Die bin ich“, versicherte Sophie lächelnd, während sie auf Mario zuging, und reichte ihm die Hand. „Und ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.“
Schweigend ergriff Mario ihre Hand, ohne auf ihre Worte einzugehen. Was hätte er auch sagen sollen? Im Gegensatz zu ihr war er alles andere als begeistert. Diese Frau würde nichts als Ärger bringen, davon war er fest überzeugt. Und als sein Körper dann auch noch auf ihre Berührung reagierte, fühlte er sich in seiner Meinung bestätigt. Für so etwas hatte er im Moment wirklich keine Zeit.
Oh, mein Gott , dachte Sophie, als ein Kribbeln ihren Körper durchzog, nachdem sie die Hand des Filialleiters berührt hatte. Wieso hat Matthias mich nicht vorgewarnt? Mit seinen kurzen dunkelbraunen Haaren, dem Drei-Tage-Bart und den grauen Augen konnte sich Mario Hebbeler sehen lassen. Trotzdem konnte sie sich nicht erklären, warum sie so heftig auf ihn reagierte. Das war ihr noch nie passiert. Besonders nicht bei Männern, die sie überhaupt nicht kannte.
Schweigend ließ Sophie seine Hand los und ging ein paar Schritte zurück. So etwas kann ich im Moment wirklich nicht gebrauchen. Sie war nicht an einer Affäre oder einer Beziehung interessiert, schließlich mussten sie zusammenarbeiten. Außerdem war ihr der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht nicht entgangen, mit dem er sie betrachtet hatte, als sie ins Zimmer gekommen war. Auch nicht der leichte Spott in seinen Augen, als sein Blick auf ihre Kleidung fiel. Und sie verfluchte sich selbst, dass sie in diesem Aufzug hier erschienen war.
Aber was hätte ich machen sollen?, dachte sie leicht gereizt und atmete tief durch. Der größte Teil ihrer Sachen war immer noch auf dem Weg von Amerika nach Deutschland. Ihre Auswahl in ihrem früheren Kinderzimmer war somit ziemlich gering gewesen. Aus diesem Grund war sie vom Flughafen gleich zu Matthias gefahren, um dort ihren Koffer abzustellen und einkaufen zu gehen. Aber nachdem sie ihren Cousin nicht in seiner Wohnung angetroffen hatte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als hierher in die Filiale zu kommen. Nur, um zu erfahren, dass Matthias sich heute freigenommen hatte.
„Ihre Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass Matthias heute nicht in die Filiale kommt“, sagte Sophie, als sie Marios prüfende Blicke und sein Schweigen nicht länger ertragen konnte. „Seltsam, davon hat mir Alexander gestern gar nichts erzählt.“
„Es war eine spontane Entscheidung, nachdem er mit seinem Bruder gesprochen hatte“, erwiderte Mario knapp, ohne eine Miene zu verziehen. „Morgen wollte er aber zurück sein.“
Überrascht sah Sophie den Filialleiter an. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Gleich darauf schlug ihre Überraschung in Besorgnis um, denn sie kannte ihren Matthias sehr gut. Schon als Kinder hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, obwohl Matthias fast zwei Jahre älter war. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, eine angefangene Arbeit einfach liegen zu lassen. Außer, er hatte dafür einen wichtigen Grund.
„Ist auf der Farm irgendetwas passiert?“, wollte Sophie besorgt wissen und ließ sich auf einen der Stühle fallen.
Doch Mario zuckte nur mit den Schultern.
„Das müssen Sie Matthias selber fragen“, antwortete er ernst und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Mir steht es nicht zu, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Er ist aber telefonisch erreichbar.“
„Ich bin nicht irgendjemand“, presste Sophie wütend hervor. „Ich bin seine Cousine. Und wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander.“
„Dann rufen Sie ihn an“, erwiderte Mario schulterzuckend. „Lassen Sie es sich von ihm erzählen. Ich mische mich da nicht ein. Denn es geht mich nichts an.“
„Gut“, sagte Sophie schroff und griff nach dem Telefon. Von wegen freundlich und hilfsbereit , ging es ihr dabei durch den Kopf, als sie an Matthias‘ Beschreibung denken musste. Eher bissig und abweisend. „Können Sie mir dann wenigstens seine Handynummer verraten? Meins ist kaputt und ich weiß sie nicht aus dem Kopf.“
Prüfend sah Mario Sophie an. Sie war wütend, das war nicht zu übersehen. Und er war sich nicht sicher, ob sie ihre letzten Worte wirklich ernst gemeint hatte. Als sie jedoch nichts weiter tat, als ihn kühl zu betrachten, beugte er sich nach vorne und griff nach dem Geschäftshandy.
„Den Apparat können Sie vergessen“, sagte er mit ernster Miene und zeigte auf den Telefonhörer in ihrer Hand, während er Matthias‘ Nummer auswählte. „Wir haben hier noch keinen Festnetzanschluss. Dieser muss erst freigegeben werden.“
„Heißt das, die Filiale ist im Moment gar nicht erreichbar?“, wollte Sophie ungläubig wissen und legte den Hörer zur Seite.
Mario schüttelte mit dem Kopf und hielt sich das Smartphone ans Ohr.
„Alle Anrufe für die alte Filiale werden direkt auf mein Geschäftshandy weitergeleitet. Jedoch haben wir im Moment weder Internet noch einen Faxanschluss. Ich warte noch …“
Weiter kam er nicht, denn am anderen Ende erklang Matthias‘ Stimme.
„Mario, ist etwas passiert?“
Eine Menge , wollte Mario am liebsten sagen, doch er hielt sich zurück. Schließlich war Matthias in diesem Moment nicht sein Freund, sondern der Cousin von Sophie de Luca, der Schwester seines Chefs.
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