Mario nickte und betrachtete die junge Frau, die so ganz ohne Make-up im Gesicht viel jünger aussah als 23. Ja , dachte er nachdenklich. Sie sieht sogar zu jung aus, um bereits Mutter eines fünfjährigen Sohnes zu sein.
„Hast du mit Frau Herzog gesprochen?“
Lisa nickte und reichte Mario die Unterlagen.
„Sie hat mir die Pläne gegeben, die sie für den Verkaufsraum gemacht hat. Wenn die Aufteilung für dich in Ordnung ist, können wir gleich morgen mit dem Einräumen beginnen.“
„Sehr schön“, erwiderte Mario geistesabwesend und studierte die Unterlagen. Dann reichte er seiner Mitarbeiterin die Papiere zurück. „Die Einteilung ist in Ordnung. Das könnt ihr so machen.“
„Gut“, erwiderte Lisa und stand auf. Doch noch bevor sie die offene Tür erreichte, drehte sie sich noch einmal zu Mario um und sah ihn fragend an.
„Hast du schon was von der Polizei gehört? Gabriele macht sich Sorgen um die Kleidungstücke, die sich noch in der alten Filiale befinden.“
„Nein, sie haben sich noch nicht gemeldet“, erwiderte Mario nachdenklich und fasste sich mit einer Hand an die Schläfe. „Doch ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet. Es dauert eine Weile, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Wir können also nur abwarten. Und was die Sachen betrifft, die sich noch in dem Gebäude befinden. Sag Gabriele, sie soll sie vergessen“, ergänzte er ernst. „Seit diesem Feuer sind inzwischen drei Tage vergangen. Der Rauchgeruch hatte also genügend Zeit, sich an die Kleidungstücke zu heften. Wir werden wohl kaum noch etwas retten können.“
„Da hast du wohl recht“, stimmte sie ihm nachdenklich zu. „Zum Glück hatten wir die meisten Sachen bereits ausgeräumt.“ Dann lachte sie leise auf. „Im Grunde können wir froh sein, dass wir kurz vorher mit dem Umzug begonnen haben. Sonst würden wir jetzt auf der Straße sitzen.“
Auch Marios Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Sag das nicht so laut“, sagte er belustigt. „Sonst glaubt am Ende noch jemand, wir hätten das geplant.“
„Als hätten wir so etwas nötig“, erwiderte Lisa kopfschüttelnd. „Aber es ist schön, dich mal wieder lächeln zu sehen. In letzter Zeit warst du immer so ernst.“
„Es war auch eine anstrengende Zeit“, antwortete Mario lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Der ganze Ärger mit dem Umbau hat uns ganz schön viel Zeit und Nerven gekostet. Aber jetzt ist es zum Glück vorbei. In gut zwei Wochen können wir wieder eröffnen, dann wird hoffentlich langsam wieder Normalität einkehren.“
„Das hoffe ich auch“, stimmte Lisa ihm zu und drehte sich schnell um, als sie aus dem Verkaufsraum ein lautes Bimmeln hörte. „Scheinbar hat noch jemand beschlossen, heute früher mit der Arbeit zu beginnen“, ergänzte sie verwundert und drückte die Unterlagen, die sie in der Hand hielt, an ihre Brust. „Ich werde mal sehen, wer es ist.“
Kurz darauf war Lisa verschwunden und Mario sah seiner Mitarbeiterin lächelnd hinterher. Sie nimmt ihre neue Rolle als stellvertretende Leitung des Verkaufsbereiches wirklich sehr ernst , dachte er belustigt.
Als jedoch sein Privathandy zu klingeln begann, blendete er alle Gedanken aus und griff nach seinem Smartphone. Dabei achtete er nicht groß auf die Nummer, sondern nahm das Gespräch sofort an. Als er jedoch nur leise Stimmen im Hintergrund hörte, bildeten sich Falten auf seiner Stirn und er lehnte sich verwirrt in seinem Stuhl zurück. Soll das etwa ein Telefonstreich sein?
„Hallo. Wer ist da, bitte?“, fragte er etwas gereizt, denn für so etwas hatte er im Moment wirklich keine Zeit.
Aber erneut meldete sich niemand und Mario wollte das Gespräch beenden. Bis plötzlich doch noch eine Männerstimme am anderen Ende erklang und Mario vor Schreck fast das Telefon fallen ließ.
„Hallo Rox.“
Callan , dachte Mario entsetzt, während sein Herz auf einmal deutlich schneller schlug. Nie könnte er diese Stimme vergessen, in der man schon damals einen drohenden Unterton hören konnte. Und das, obwohl er sie so lange nicht gehört und sich gewünscht hatte, ihn und die anderen nie wieder sehen zu müssen.
Leider hatte sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Denn vor gut zwei Monaten hatten sie ihn hier in Wien aufgespürt und versucht, mit ihm in Kontakt zu treten. Aber er hatte keine Lust, sich noch einmal von ihnen sein Leben ruinieren zu lassen. Noch einmal zusehen zu müssen, wie sie andere verletzten. Es hatte lange gedauert, bis es ihm wenigstens halbwegs wieder besser gegangen war. Das würde er sich von ihnen nicht kaputt machen lassen.
„Sie haben sich verwählt. Hier gibt es keinen Rox“, probierte Mario sein Glück und versuchte, sich zu beruhigen.
Er wollte gar nicht wissen, wie sie an seine private Handynummer gekommen waren. Doch er wusste, dass sie ihn nie in Ruhe lassen würden, wenn er sich jetzt zu erkennen gab. Seit ihrer letzten Begegnung waren einige Jahre vergangen. Er hatte sich ziemlich verändert. Kaum noch etwas an ihm erinnerte an den kleinen verstörten Jungen von damals. Und mit etwas Glück konnte es funktionieren.
„Netter Versuch“, ertönte es spöttisch vom anderen Ende und Mario musste schlucken. „Aber ich weiß genau, wer du bist. Nachdem uns im Internet der Artikel mit deinem Foto ins Auge gefallen ist, haben wir Nachforschungen angestellt. Mir ist gleich eine gewisse Ähnlichkeit aufgefallen und wir wurden nicht enttäuscht. Beeindruckend, was aus dir geworden ist. Filialleiter der de-Luca-Filiale in Wien. Nicht schlecht für einen ehemaligen Dieb. Ich frag mich nur, ob dein Chef weiß, wer du wirklich bist.“
Kaum hatte er das gesagt, wurde das Gespräch unterbrochen und es war nur noch ein Tuten zu hören.
„Verdammt“, fluchte Mario leise vor sich hin und seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Natürlich wusste er genau, von welchem Artikel Callan gesprochen hatte.
Schon vor Monaten war dieser in der Zeitung und auch im Internet erschienen, um über die Vergrößerung der Wiener Filiale zu berichten. Und als man dafür ein Foto von ihm und seinem Team machen wollte, hatte er sich nichts weiter dabei gedacht.
Ich bin nachlässig geworden , ging es ihm durch den Kopf und er hätte am liebsten etwas gegen die Wand geworfen. Da er so lange Glück gehabt hatte, war die Angst, gefunden zu werden, mit den Jahren immer kleiner geworden. Er hatte damit begonnen, sich hier ein Zuhause aufzubauen. Hatte sich eine gemütliche ost-westorientierte Maisonette-Wohnung gekauft, statt wie früher in möblierten Zimmern aus gepackten Koffern zu leben. Und er war seit vier Jahren in keine andere Stadt mehr umgezogen.
„Ich bin so ein Idiot“, flüsterte er leise und schüttelte mit dem Kopf. „Ich hätte verschwinden sollen, als ich diesen Brief bekommen habe.“
Doch er hatte seine Leute nicht im Stich lassen wollen. Gehofft, sie würden ihn in Ruhe lassen, wenn er nicht auf ihre Kontaktversuche reagierte. Aber damit hatte er sich nur selbst etwas vorgemacht. Er hätte wissen müssen, dass Callan, Seth und Vico nicht so leicht aufgeben würden. Dafür war zu viel zwischen ihnen vorgefallen. Aber er musste einen Weg finden, sie wieder loszuwerden. Niemals durften die de Lucas von seiner Vergangenheit erfahren. Denn dadurch konnte er alles verlieren, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte.
Fieberhaft überlegte Mario, was er jetzt tun sollte. Leider waren seine Möglichkeiten ziemlich begrenzt. Er könnte versuchen, mit ihnen zu reden. Bezweifelte aber, dass sie sich damit zufriedengeben würden. Er hatte das Richtige tun wollen und war ihnen in den Rücken gefallen. Damit hatte er gegen das oberste Gesetz verstoßen, und das würden sie ihm niemals verzeihen. Dafür kannte er seine alten Freunde einfach zu gut.
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