Schweigend starrte Karl Mario an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Kennst du diese Männer?“
Mario nickte zögernd.
„Jedoch haben wir uns viele Jahre nicht gesehen“, ergänzte er ernst. „Sie haben durch einen Zeitungsartikel erfahren, wo ich mich aufhalte.“
„Und sie haben dich bedroht?“
„Nun ja, vielleicht nicht mit Worten“, musste Mario zugeben. Denn bisher hatten Callan und seine Jungs ihn nur wissen lassen, dass sie ihn gefunden hatten. „Aber ich kenne sie. Ich weiß, dass sie irgendetwas vorhaben. Und das ist bestimmt nichts Gutes.“
„Wie kommst du darauf?“
Mario stöhnte leise auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Callan, Seth und Vico gehörten früher zu einer Straßengang. Sie kamen wegen schweren Raubes mit Todesfolge fünf Jahre ins Gefängnis. Damals waren sie 16.“
Ungläubig sah Karl Mario an.
„Woher kennst du solche Leute?“
„Das spielt jetzt keine Rolle“, wich Mario der Frage aus. Und bereute es fast, nicht zu einem fremden Anwalt gegangen zu sein. „Wichtig ist nur, dass die drei gefährlich sind. Ich möchte sie nicht in meiner Nähe haben. Oder in der Nähe der Filiale. Kann man da irgendetwas machen?“
„Ich fürchte, das wird schwierig“, musste Karl zugeben. „Ich nehme mal an, sie haben ihre Gefängnisstrafe abgesessen. Somit können sie dafür nicht mehr belangt oder bestraft werden. Und nur, weil du dich von ihnen bedroht fühlst, wird die Polizei nichts unternehmen. Auch eine gerichtliche Verfügung wirst du unter diesen Bedingungen nur schwer erhalten. Du bist weder angegriffen worden, noch wurdest du direkt bedroht. Und ein Brief, ein Anruf und ein Besuch zählen noch nicht als Stalking. Du kannst ihnen aber Hausverbot für die Filiale erteilen.“
Frustriert stand Mario auf.
„Das ist alles?“, fragte er fassungslos. „Gibt es sonst keine Möglichkeit, mich vor ihnen zu schützen?“
„Mario“, sagte Karl ruhig und stand ebenfalls auf. „Solange sie nicht irgendetwas Gesetzwidriges tun, wird es schwer werden, etwas gegen sie zu unternehmen.“
„Verstehe. Ich muss also warten, bis sie mir den Kopf einschlagen“, erwiderte Mario sarkastisch. „Nur ist es dann zu spät. Sie haben zwei Menschen getötet, Karl“, ergänzte er wütend. „Sind in Dutzende von Häusern eingebrochen. Und sie haben sich bestimmt nicht geändert, nur weil sie ihre Strafe abgesessen haben.“
„Mario, glaub mir. Ich würde dir wirklich gerne helfen“, versicherte Karl entschuldigend. „Auch wenn ich es kaum glauben kann, dass du mit solchen Leuten Kontakt hattest. Während unserer Schulzeit bist du fast immer für dich geblieben und hast dein eigenes Ding gemacht. Es war unmöglich, an dich heranzukommen.“
Schweigend sah Mario Karl an. Seine Einschätzung war gar nicht so falsch. Er hatte auf die harte Tour lernen müssen, wie zerstörerisch Freundschaften sein konnten. Oder wie weit man bereit war zu gehen, nur um die Anerkennung der anderen nicht zu verlieren. Das hatte ihn verändert.
Aber Karl konnte die Wahrheit nicht wissen. Denn nur wenige Menschen wussten, wie groß die Schuld war, die er auf sich geladen hatte. Und er konnte nicht zulassen, dass die Geschichte nach all der Zeit an die Öffentlichkeit kam.
„Es hatte nichts mit euch zu tun“, sagte Mario daher nur. „Die Pflegefamilie, die neue Umgebung. Ich musste damals mit vielen Dingen klarkommen. Außerdem war ich schon immer ein Einzelgänger.“
Was nicht einmal gelogen war. Denn nachdem er auf diese schmerzhafte Weise erfahren musste, dass es besser war, niemanden zu vertrauen, hatte er es vorgezogen, alleine zu sein. Eine Einstellung, die er bis heute nicht abgelegt hatte. Daher ließ er sich auch nur selten auf Freundschaften oder Beziehungen ein. Wobei selbst diese in der Regel ziemlich oberflächlich blieben.
Karl nickte.
„Da hast du wohl recht“, erwiderte er nachdenklich. „Trotzdem solltest du nicht vergessen, ich bin für dich da. Wenn irgendetwas passiert, auch nur die kleinste Drohung, sag mir Bescheid. Dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.“
„Danke“, antwortete Mario angespannt und reichte seinem ehemaligen Schulkameraden die Hand. „Ich weiß das zu schätzen.“ Auch wenn es kein großer Trost war.
Dann verabschiedete er sich von Karl und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen.
Mario hatte keine Lust, zurück zur Filiale zu fahren, daher fuhr er nach Hause. Dabei ging er das Gespräch mit Karl in Gedanken immer wieder durch und suchte nach einer Aussage, die er anders hätte formulieren können. Irgendetwas, was als Drohung durchgehen würde. Aber egal wie lange er auch grübelte, ihm fiel nichts ein.
„Ich frage mich nur, ob dein Chef weiß, wer du wirklich bist.“
Das war die einzige Drohung gewesen, die Callan direkt ausgesprochen hatte. Doch damit konnte er schlecht zu einem Anwalt oder zur Polizei gehen, ohne dass seine Vergangenheit ans Licht kam. Und damit hatte seine alte Gang ganz bestimmt gerechnet.
Schon deutlich besser gelaunt verließ Sophie das Modegeschäft und brachte die Tüten zu ihrem Mietwagen. Jetzt wo sie sich ein paar neue Kleidungsstücke zugelegt hatte, fühlte sie sich gleich viel wohler in ihrer Haut. Denn, anders als heute, musste sie morgen nicht in völlig ungeeigneten Sachen an ihrem neuen Arbeitsplatz erscheinen. Was hoffentlich nicht nur Mario Hebbeler, sondern auch seine Angestellten davon überzeugte, dass sie ihren Job durchaus verstand.
Kaum schweiften ihre Gedanken ab zu ihrer eher kühlen Begrüßung in der de-Luca-Filiale, legte sich Sophies gute Laune. Gerne hätte sie noch einmal in Ruhe mit dem Filialleiter gesprochen, bevor sie morgen durch die Arbeit eingespannt wurden. Nach allem, was sie heute gesehen hatte, gab es bis zur Eröffnung noch genug zu tun. Und sie hielt es für besser, einen genauen Plan zu erarbeiten, wann welcher Arbeitsschritt erledigt werden sollte. Statt alles in die Hände einer Mitarbeiterin zu legen, die erst gut ein Jahr im Unternehmen tätig war.
„Auch, wenn sie sich gut mit dem Filialleiter versteht“, flüsterte Sophie leise.
Leider kannte sie jedoch weder Marios Handynummer noch seine Adresse, sodass das klärende Gespräch bis morgen warten musste. Es sei denn …
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, griff Sophie nach ihrem Handy, welches dank des neuen Akkus wieder funktionierte, und wählte die Nummer ihres Cousins. Es klingelte eine ganze Weile und sie wollte schon aufgeben, als Matthias das Gespräch dann doch noch annahm.
„Ja, was gibt’s?“, fragte er belustigt. Gleich darauf wandte er sich jemand anderem zu. „Schatz warte, ich muss kurz telefonieren. Vielleicht ist etwas passiert.“
Überrascht hörte Sophie zu, wie kurz darauf das Lachen einer Frau erklang, das immer leiser wurde. Bis schließlich eine Tür zuschlug. Seltsam , ging es ihr durch den Kopf. Matthias hatte ihr gar nicht erzählt, dass seine Freundin Rahel auch mit zur Farm gefahren war. Oder hatte er schon wieder jemand Neues?
„Matthias, bist du noch dran?“, fragte sie zögernd, als am anderen Ende nichts mehr zu hören war.
„Ja, ich bin noch da“, erwiderte Matthias lachend. „Ich habe nur gewartet, bis Rahel das Zimmer verlassen hat. Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten. Wie war dein erster Tag?“
Also ist Rahel doch noch aktuell , ging es Sophie durch den Kopf. Und sie überlegte kurz, was sie auf seine Frage antworten sollte. Dann entschied sie sich für die Wahrheit.
„Es war eine Katastrophe“, gab sie stöhnend zu und stieg in den blauen Mietwagen ein. „Ich sah aus wie 18, und so wurde ich auch behandelt. Und das nur, weil ich gezwungen war, Sachen anzuziehen, die ich während der Schulzeit getragen habe. Außerdem ist dieser Mario Hebbeler gar nicht so nett, wie du ihn beschrieben hast. Jedenfalls nicht zu mir. Im Gegenteil, ich kam mir vor wie ein Eindringling.“
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