Kopfschüttelnd schaut Peter Faulhaber hinter Roswitha Schnabel her, betrachtet die Karte in seiner Hand und schiebt sie in seine Hosentasche. Den Mann, der sich in den Schatten der Eingangstür drückt und ihn dabei nicht aus den Augen lässt, sieht er nicht.
Der Platz, auf dem ich noch vor einer Stunde geparkt hatte, ist belegt. Ich gehe davon aus, dass es ihr nicht auffallen wird. Wenn doch, muss mir eine Ausrede einfallen, weshalb ich mein Auto umgeparkt habe. Zitternd springe ich aus dem Wagen und schmeiße die Tür hinter mir ins Schloss. Ich hoffe, dass sie meine Nachricht auf ihrem Handy gelesen hat und meiner Bitte, noch bei der Apotheke Magnesiumtabletten zu kaufen, nachgekommen ist. Ein vollkommen unsinniger Auftrag, aber er würde mir Zeit verschaffen. Ihr Wagen ist weit und breit nicht zu entdecken. Sie hat meine Nachricht also bekommen. Trotzdem ist die Zeit knapp.
Im Laufschritt sprinte ich über den Kundenparkplatz. Wie jeden Samstagmittag ist er nur mit wenigen Fahrzeugen belegt. Die meisten Kunden möchten ihren Wagen spätestens am frühen Samstag abholen, damit sie am Wochenende wieder über ihn verfügen können. Das bedeutet noch einmal Stress für meine Mitarbeiter, aber jetzt ist vorrübergehend Ruhe eingekehrt. Der geschäftliche Teil ist für heute abgeschlossen.
Wie jedes Jahr habe ich meine Kunden in die Werkstatt eingeladen. Das Ganze läuft unter dem Motto: . Einen ersichtlichen Kundenzuwachs bringt es nicht. Vielleicht kann ich damit aber meine Stammkundschaft binden. Mit dieser Argumentation verteidige ich den Tag vor meiner Frau.
Roswitha findet die Veranstaltung albern. Ich brauche diese Treffen. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, wer sich in die Sitze der Autos drückt, die mir für kurze Zeit überlassen werden. Manche Fahrzeuge haben verdreckte Scheiben, sodass ich annehme, dass sich die Besitzer mir nicht zeigen wollen. Aber sie müssen, können ja während der Reparatur nicht im Wagen sitzenbleiben. Andere scheinen es so eilig zu haben, dass sie nur kurz ihr Fahrzeug abgeben, sogleich davonstürmen, und ich keine Gelegenheit habe, sie zu studieren. Ich glaube, sie schieben wichtige Termine nur vor, um den direkten Kontakt mit mir zu vermeiden. Es stimmt nicht, was ich Roswitha vorgaukele. Ich führe das Fest nicht zwecks Kundenbindung durch. Wenn ich ehrlich zu mir bin, veranstalte ich das Ganze nur, um im Rahmen einer kleinen Geselligkeit, vielleicht einige der Kunden zu erreichen, die sich mir bisher beharrlich entzogen haben. Dann kann ich mir die Zeit nehmen, die mir unbekannten Wesen zu beobachten. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass ich mir ihre Gesichtszüge einpräge. Nein, viel wichtiger sind Mimik, Gestik, Körperhaltung. Das sind für mich die entscheidenden Wiedererkennungsmerkmale eines Menschen. Und die Stimme natürlich. Sie verändert sich über Jahre hinweg nur unwesentlich.
Ich fiebere der heutigen Einladung schon seit Wochen entgegen. Ich habe eine Liste angefertigt, mit den Menschen, die sich nahezu im Verborgenen halten. Sie sind ja nicht namenlos, auch nicht gesichtslos, ich verfüge nur nicht über die mir wichtigen Wiedererkennungsmerkmale dieser Kunden. Und ich muss wissen, wer mir bedrohlich werden könnte.
Zielstrebig steuere ich auf den Geschäftsbereich zu. Die Eingangstür lässt sich nur schwer öffnen. Ich weiß es seit Monaten und habe mich bisher nur dazu aufraffen können, das Schloss zu ölen, was das Problem nicht behebt. Die Tür ist verzogen. Mit Kraft stemme ich meine Schulter gegen den Rahmen, bis sich die Tür mit einem Ruck öffnet, sodass ich, für Sekunden haltlos, in den Raum stolpere. Es ist ein tägliches Ärgernis, das sich durch ein paar Handgriffe abstellen ließe. Es gibt jedoch zu viele Baustellen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mir fehlt die Kraft. Und außerdem besitze ich nicht die erforderlichen finanziellen Mittel. Das ist falsch. Ich habe sie. Ich muss unbedingt mit Roswitha reden.
Unentschlossen stehe ich im Empfangsbereich. Skeptisch betrachte ich den Tresen, an dem die Kunden die Reparatur und Wartung ihrer Fahrzeuge in Auftrag geben und die Zahlungsmodalitäten erledigen. Altmodisch, längst aus der Zeit gefallen, mit abgestoßenen Ecken und Kanten ragt das Monstrum in den Raum hinein. Ohne Karla Tönns dahinter, die sich stets standhaft bemüht, mit einem Lächeln die Aufträge entgegenzunehmen, wirkt der Platz heute noch ärmlicher, irgendwie abgewrackt. Ja, Karla, die gute Seele. Ich sollte sie aber nicht unterschätzen. Ich weiß, zu welchen verbalen Ausbrüchen sie fähig ist, auch zu Handlungen?
Das Mobiliar in dem Raum ist nicht einheitlich. An der Längsseite steht ein auffälliger Schreibtisch hinter dem Sven Wiesner sitzt und als Bindeglied zu den Monteuren die Kunden berät. Sven ist von allen Mitarbeitern am längsten bei mir beschäftigt. Schnell hatte sich zwischen mir und Sven eine Freundschaft entwickelt. Im Laufe der Jahre ist Sven jedoch immer stärker zum Eigenbrötler geworden. Ich weiß, dass er lange Zeit über verschiedene Datingagenturen versucht hat, eine Partnerin zu finden. Seine Bemühungen haben jedoch nie zu einer ernsthaften Beziehung geführt, sodass er sich in einem Singleleben eingerichtet hat. Ich habe keine Ahnung, woran seine Suche letztendlich gescheitert ist. Er ist nicht gerade mit anziehender Schönheit gesegnet. Das spärliche Haar, auf einem langgezogenen Kopf, trägt er stets glatt zurückgekämmt, wodurch die roten Pigmentflecke in seinem Gesicht deutlich sichtbar werden. Der ungewöhnlich lange Hals ruht auf knochigen Schultern, wie auch sein gesamter Körperbau als lang und schlaksig zu bezeichnen wäre. Vor Jahren konnte Sven sein wenig attraktives Äußeres noch mit Witz und Unternehmungsgeist vergessen lassen. Heute sucht er die Schwachstellen bei anderen. Meine hat er gefunden. Uns verbindet schon lange keine Freundschaft mehr.
Svens Schreibtisch wurde vor nicht allzu langer Zeit bei Ikea angeschafft. Roswitha hatte den Kauf in die Hand genommen. Sie wollte sich nicht länger schämen, war ihr Argument. Bei dem Anflug von Veränderung blieb es sodann. Es war keine Verbesserung. Der Tisch passt nicht in eine Werkstatt. Es ist ein Schreibtisch für ein Jugendzimmer, ein weibliches Jugendzimmer und verleiht dem gesamten Raum eine groteske Note.
Meine schon vorhandene Unruhe wächst, als ich mich dem Arbeitsbereich in der hintersten Ecke zuwende. Paul Klann ist für den Verkauf zuständig und versucht unermüdlich, Autoreifen und Diverses an den Mann zu bringen. Es ist nur eine Teilzeitstelle. Ich werde Paul trotzdem nicht halten können. Vielleicht kann Sven seine Arbeit mit übernehmen.
Auf dem Parkplatz wird eine Autotür zugeschlagen. Roswitha ist angekommen. Sie ist mir so vertraut, dass ich sie sogar an der Art und Weise erkenne, wie sie eine Autotür schließt. Selbstverständlich glauben Ehemänner, Eigenheiten ihrer Partnerin zu kennen, zumindest die auffälligsten. Ich allerdings, kenne alle individuellen Merkmale meiner Frau, habe Roswitha studiert, die Gesamtheit ihrer Persönlichkeit in Einzelteile zerlegt und unwiderruflich abgespeichert.
Wir waren wie füreinander geschaffen, als wir uns vor unendlich langer Zeit bei einer dieser unbeschwerten, schnell aus dem Ufer laufenden Partys kennenlernten. Roswitha hatte gerade mit ihrem Pharmazie Studium begonnen. Ich hatte für mich nie ein Studium in Erwägung gezogen. Ganz davon abgesehen, dass ich für ein Studium nicht die erforderlichen schulischen Abschlüsse vorweisen konnte, stand für mich von klein auf fest, dass ich in die Autobranche einsteigen würde. Die Werkstatt meines Vaters lief damals gut, nein, das ist untertrieben, sie lief sehr gut. Er hatte sich auf die Wartung und Reparatur von Oldtimern spezialisiert und sich damit eine Marktlücke erschlossen. Die Kundschaft war von seinem Know-how überzeugt. Sein Wissen und seine Unbekümmertheit zog aber auch viele Möchtegerne mit ihren Sportwagen an, denn mein Vater verstand sich auf das Aufmotzen von Autos, oft über den Rahmen der Legalität hinaus. Ich hatte auf den angesagten Partys eigentlich nichts zu suchen, wäre ohne den Ruf meines Vaters wahrscheinlich links liegen gelassen worden. So aber war ich als gefragter Hipster jederzeit gern gesehen. Meine Freundschaft zu einem der voll gefragten Discjockeys gereichte mir ebenfalls nicht zum Nachteil. Mein Äußeres hat damals genauso wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie meine mickrige Erscheinung heute. Mit dem Ruf meines Vaters im Rücken erlaubte ich mir ein selbstbewusstes, lockeres Auftreten, mit dem ich die Menschen für mich gewinnen konnte. Rückblickend muss ich festhalten, dass auch mein getunter Sportwagen dazu beitrug, mein Ansehen auf einem höheren Level zu halten.
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