Sie betrachtete ihn lange, drehte sich von ihm weg und bemerkte erst jetzt, wie kalt ihr war.
Sorgfältig suchte sie ihre Kleidung aus. Freizeitkleidung sollte es sein; leger und doch edel. Sie brauchte einen freien Kopf, frische Luft, vielleicht sogar ein bisschen Regen. Die Kleidung sollte von ihrem verquollenen Gesicht ablenken.
Leise öffnete sie die Haustür und warf noch einmal einen Blick auf ihren Mann. Sie hatte sich überzeugt, dass er keine Hilfe benötigte, glaubte wieder einmal, sich nicht von ihm trennen zu können.
Es regnete tatsächlich leicht, warmer Regen, der sich auf der Haut besser anfühlte als kaltes Wasser aus der Dusche. Mit gesenktem Kopf ging sie die Straße bis zum Feldweg hinunter. Erst hier straffte sie die Schultern, warf den Kopf in den Nacken und fing mit der Zunge die Regentropfen auf. Sie mischten sich mit ihren Tränen, die ihr haltlos über die Wangen liefen.
Je länger sie nachdachte, desto deutlicher wurde ihr die ausweglose Situation in der sie sich befand.
Die Konten waren schon seit einer Ewigkeit leergeräumt. Die Schuldenlast war immens. Kello unternahm alles, ihre Familie am Überleben zu halten, indem sie die unbequemsten Gläubiger mit Ratenzahlungen ruhig zu stellen versuchte. Immer wieder setzte sie Charme und Überredungskunst ein, um Rückzahlungen hinauszuzögern. Durch ihr Gespür für die Manipulierbarkeit einzelner Menschen setzte sie die Schwachen ganz hinten auf ihre Liste. Manchmal musste sie lächeln, wenn sie mitbekam von wem sich ihr Mann Geld geliehen hatte. Kreativität besaß er, dass musste sie ihm schon lassen.
Erdrückend waren ihre Bankschulden. Sie war klug genug, ihre Kraft nicht an einen kleinen Bankangestellten zu vergeuden. Die Banken wollten ihr Geld; Punkt, und sie konnte die Forderungen seit einem Monat nicht mehr begleichen. Ihre Schulden ließen sich scheinbar nicht abtragen. Nur ein geringer Teil ihres Gehaltes blieb zum täglichen Leben. Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft, jeden Monat eine kleine Summe unter ihrer Unterwäsche zu verstecken. Sie betrachtete es als Überlebensreserve.
Kello blieb stehen und lauschte dem Geräusch eines Mähdreschers. Es hatte aufgehört zu regnen. Komisch schoss es ihr durch den Kopf, dass der Bauer bei dieser Nässe auf seinem Feld rumkurvt. Vielleicht hat er auch Schulden, braucht frische Luft, vielleicht ist ja auch nur seine Frau betrunken. Sie musste selber über ihren Fatalismus lächeln.
Die Schätze unter ihrer Unterwäsche waren unwiderruflich weg. Sie hatte lange nicht gezählt und wusste nicht, welche Summe sie betrauern sollte.
«Jetzt ist der Schatz unter meiner Unterwäsche nur noch mein Körper», prustete sie laut heraus und erschreckte sich gleichzeitig, wie frivol sie in dieser Situation sein konnte.
Sie musste handeln. Ihr Plan, an das Budget der Schule heranzukommen stand unwiderruflich fest. Sie befürchtete jedoch, dass es noch zu früh war, ihn umzusetzen. Noch war sie sich nicht sicher, ob ihre Machtposition auch mit so viel Vertrauen bei den Kollegen verbunden war, dass sie ihr keinen Missbrauch zutrauten, wenn der Verlust des Geldes aufflog.
Sie hielt sich Situationen vor Augen, in denen sie geglänzt hatte und puschte sich dadurch hoch.
«Es muss jetzt beginnen, einen anderen Ausweg gibt es nicht. Ich ziehe noch die Maßnahmen mit Jan durch. Das müsste reichen, um auch den letzten von meiner Seriosität zu überzeugen. Gut das erst einmal das Wochenende vor mir liegt», sprach sie laut vor sich hin, um sich Mut zu machen.
Das beklemmende Gefühl, dass sich wieder einmal zeigte, führte sie nicht auf einen einzelnen Kollegen zurück, sondern auf ihre verzwickte Situation.
Sie drehte sich um und legte den Rückweg mit erhobenem Kopf zurück.
«Mama heute ist Montag. Du hast mir noch nicht das Essensgeld für die Schule gegeben», kam Sina auf Kello zugerannt, während sie sich bemühte ihre Schultasche lässig über die Schulter zu schmeißen. Kello zog sich der Magen zusammen. Sie schaffte es trotzdem ihre Kleine, wie sie sie gerne zum Verdruss ihrer Tochter nannte, anzulächeln.
Das muss jetzt sein, dachte sie und drückte Sina ihre zusammengekratzten Euro in die Hand. «Sorry Liebes, habe ich ganz vergessen.» Sina schmiegte sich an sie, schnappte nach einem Apfel, den scheinbar die unersetzliche Oma bereitgelegt hatte und ließ lachend die Tür hinter sich zuknallen.
«Wenigstens hat das Kind nichts von unserem finanziellen Ruin mitbekommen», brummte sie ihren Mann an, der missmutig am Esstisch saß.
Ihr beider Leben war von unzähligen Aussprachen geprägt, eine weitere hätte am Wochenende erfolgen müssen. Es hatte lange gedauert, bis er wieder ansprechbar war. Sein Kater wog schwer. Er wollte sich nicht ansprechen lassen, sondern verließ kommentarlos die Wohnung und kam erst spät in der Nacht, zu Kellos Erstaunen, nüchtern zurück. Er hatte sich ihr entzogen.
Als Kello das Schulgebäude heute später als üblich betrat, spürte sie sofort, dass etwas anders war. Die Schüler tobten nicht wie sonst vor dem Unterricht im Gebäude herum oder lümmelten lässig in einer Ecke, sondern standen in Gruppen zusammen. Unterschiedliche Signale wurden aus den Gruppen an sie gesendet. Einige schienen verängstigt, andere versuchten gleichgültig und desinteressiert zu wirken, in einer Gruppe glaubte sie Beschämung zu spüren.
Feige Mittäter, dachte sie vor sich hin. Grußlos und mit ernstem Gesicht wollte sie ihr Büro betreten, als ihr die Sekretärin aufgeregt entgegenlief. «Sie sollen sofort die Dezernentin anrufen. Die ist scheinbar auf hundertachtzig. Sie hat schon ein paarmal angerufen. Sie will genauestens über den Vorfall am Freitag aufgeklärt werden. Am besten Sie rufen sofort zurück.» Ängstlich schaute sie Kello hinterher.
Die kann mich mal, dachte Kello in ihrem Büro angekommen, nahm jedoch den Hörer und wählte die bekannte Nummer. Sofort wurde sie mit lautem Geschrei ohne Begrüßung mit der auch im Normalton schrillen Stimme konfrontiert.
«Was ist da bei Ihnen passiert? Warum haben Sie mich nicht informiert? Es kann doch wohl nicht angehen, dass ich das durch Eltern erfahre. Mir haben Sie es zu verdanken, dass keiner die Presse eingeschaltet hat. Wäre kein schöner Ruf für Ihre Schule, wo Sie doch so sehr darauf bedacht sind glänzend dazustehen. Was haben Sie eigentlich seit Freitag in der Angelegenheit unternommen?», beendete sie vorerst ihr Geschrei.
«Der Freitag ist ruhig und sachlich nach Notfallplan durch mich abgewickelt worden. Jan wurde vorerst bis zur Konferenz von mir beurlaubt. Auf der Konferenz werden wir beschließen wie es weiter geht.»
«Da will ich dabei sein, schließlich bin ich auch meiner Behörde Berichterstattung schuldig und die Eltern erwarten das von mir, wenn Sie sich schon nicht um Eltern kümmern. Setzen Sie den Konferenztermin auf den Donnerstag. Am Mittwoch kann ich auf gar keinen Fall, muss ins Ministerium», stieß sie in schmerzend schrillem Ton ihre Befehle heraus.
Scheiße, das könnte dir so passen, mir hier meine Show, die ich so dringend benötige und die ich zelebrieren werde zu stehlen. Willst hier selber nur eine Show abziehen, weil du schon lange Zeit kein Bein mehr auf den Boden bekommst und nur noch belächelt wirst. Schade, dass ich dir deinen Spitznamen nicht sagen darf. Er würde dir nicht gefallen. Ich würde mich ausnahmsweise sogar auf deine schrille Stimme freuen. Du kommst mir hier nicht ins Haus, das ist mein Revier, dachte Kello und entschied sich schnell.
«Tut mir leid aber die Konferenz findet am Mittwoch statt. Die Einladungen habe ich noch am Freitag herausgegeben», log sie.
«Sie wollen doch nicht, dass ich das rückgängig mache, mit der Begründung, dass Sie am Mittwoch nicht können? Sind Sie sicher, dass alle die diesen Termin fest eingeplant haben, Verständnis dafür aufbringen nun erneut umplanen zu müssen nur weil Sie dabei sein wollen?» In der Leitung war es seltsam still.
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