«Sie sollten sich bei Veränderungen nicht immer gleich so aufregen, überhaupt sollten sie alles viel gelassener sehen. Ein paar Jahre wollen oder müssen Sie doch noch durchhalten», sprach Frau Ehlers beruhigend auf sie ein. Sie unterschied sich nicht nur durch ihre besonnene Art von Frau Retlaw, sondern hatte sich bei Schülern mit ihrer Frische und pragmatischen Art Sympathien erworben.
«Für mich ist die nicht neu. Kenne die schon vom Studium her. Viel Spaß kann ich nur sagen», murmelte Wolter und gab sich keine Mühe, seine grenzenlose Abneigung gegen Menschen zu verbergen. Gut gekleidet, heute mal nicht overdresst, saß er kerzengrade auf seinem Stuhl, den er immer einnahm. Kein anderer wagte darauf Platz zu nehmen. Seine Arme, sein Nacken ließen erahnen wie er seinen Körper zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Die Verfallserscheinungen waren jedoch nicht zu übersehen.
«Die ist cool», gluckste Selina aus Klasse 8 in der Pausenhalle pubertär hervor.
«Na, wenigstens nicht so’n alter Knacker», war der einzige Kommentar von Jan.
Frau Kello war aufgeregt, sehr aufgeregt. Sie hatte sich auf ihren ersten Tag als Schulleiterin nicht wirklich vorbereitet. Wie sollte sie auch. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Sie wollte heute nur nett sein. Machtansprüche würde sie später stellen.
Auch alle anderen wollten nur nett sein. Wäre Frau Kello nicht so aufgeregt gewesen, wären ihr schon an diesem Tag die kleinen Unterschiede zwischen nett sein und nett sein wollen in ihrem neuen Umfeld aufgefallen.
Sie beendete den aufregenden Tag mit dem Gefühl, zukünftig mit einem kompetenten Kollegium und Dezernenten die schulpolitische Landschaft gestalten zu können.
Alles andere was sie beabsichtigte, würde sich zeigen und brauchte Zeit. Es gelang ihr, die Beklemmung, die sich schwer um ihre Brust legte, zu ignorieren.
Der Alltag nahm brutal von Frau Kello Besitz.
«Kannst du nicht mal früher nach Hause kommen? Es geht mir auf die Nerven, stundenlang deine Mutter um mich herum wuseln zu sehen. Vielleicht fällt dir hin und wieder mal ein, dass du eine kleine Tochter hast», brüllte Herr Kello.
«Vielleicht fällt dir hin und wieder ein, dass du Vater bist. Dann müsstest du meine Mutter nicht ertragen», schrie Frau Kello zurück. «Und noch etwas, hättest du ein bisschen mehr Format, würde es mich nach Hause ziehen. Stattdessen muss ich mir intelligente Gesprächspartner außerhalb dieser vier Wände suchen.»
Die zehnjährige Tochter klammerte sich am Arm der Mutter fest. Es war nicht auszumachen, ob sie die Wucht dieses Satzes verstanden hatte, den Streit aber sehr wohl.
Frau Kello machte gute Arbeit, sehr gute sogar.
Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich die Anerkennung der Kollegen erkämpft. Sie vertrauten ihrem Drang zum selbstauferlegten Perfektionismus. Er verlieh ihnen persönlich Sicherheit, denn er ließ nicht zu, dass Kollegen mit unerwarteten Problemen konfrontiert wurden.
Sie hatte sich stets unter Kontrolle. Ihre sportliche, schlanke Figur gab ihr die Kraft, auch in außergewöhnlichen Situationen Haltung zu bewahren. Nur selten wurde ihre Stimme laut. In solchen Fällen war man jedoch fest davon überzeugt, dass sie die richtige Tonlage der jeweiligen Situation angepasst hatte. Frau Kello verstand es, sich den Anlässen entsprechend von sportlich bis elegant zu kleiden. Dafür wurde sie von vielen ihrer Schülerinnen geliebt, aber auch dem Kollegium gefiel dieser selbstsichere Stil, denn man sprach sehr schnell in anderen Schulen, Institutionen, Ämtern, ja auch in der Presse von der neuen Chefin, was der Schule positive Aufmerksamkeit einbrachte.
Frau Kello war machtbesessen. Dessen war sie sich voll bewusst und sie war bereit, jedes Mittel einzusetzen, um ihre Machtposition weiter zu festigen und auszubauen. Man sollte ihr voll vertrauen, musste ihr voll vertrauen, um ihren gut durchdachten Plan umsetzen zu können. Sie war eine Meisterin der Manipulation, der Manipulation von Menschen.
Sie war davon überzeugt, dass niemand sie wirklich durchschaute. Aber da irrte sie sich. Ihrer ausgezeichneten Wahrnehmung hatte sich ein Mensch entzogen. Vielleicht beschlich sie deshalb in ruhigeren Stunden ein beklemmendes Gefühl, das sie nicht einordnen konnte.
«Ich schlag dir dein Hirn vorwärts durch die Fresse. Na komm schon, komm, komm, ich reiß dir die Eier ab. Ohne deine Eier ist der Menschheit sowieso gedient. Noch so’n Arschloch wie dich, verträgt die Welt nicht.»
«Los Jan, los, gib ihm den Rest. Der ist doch schon fertig. Ja, jetzt hast du ihn. Mach ihn kalt.»
Die Schläge von Fäusten, die auf bereits freiliegende Knochen trafen waren nicht zu hören. Sie wurden von den frenetischen Kampfanfeuerungen der Mitschüler übertönt.
Kello rannte durch die Halle. Vor ihr tat sich ein Pulk von Schülern auf, kreisförmig angeordnet, mit einer Dichte von Schülern, die scheinbar die Gesamtschülerzahl übertraf.
«Aufhören, aufhören, lasst mich durch», schrie sie laut aber sehr beherrscht und von Autorität besetzt dem Pulk entgegen. Wo ist die verdammte Aufsicht, dachte sie sich.
Selbst in höchster Anstrengung ging ihr durch den Kopf, dass sie daraus für sich und ihren Plan Profit schlagen könnte. Die Aufsicht hatte sich aufgrund der Brutalität wahrscheinlich in den hintersten Teil des Gebäudes verzogen, um später sagen zu können, nichts gehört zu haben.
Wie naiv, dachte sie und welche Chance für mich.
«Lasst mich durch», sagte sie nun nochmals laut aber mit deutlich ruhigerer Stimme, selbst überrascht, dass ihr das gelang.
Langsam bahnte sich eine Gasse für sie. Der Durchgang wurde schnell größer, denn die Gaffer flüchteten in alle Richtungen. Die Handys, sensationsgeil im Einsatz, verschwanden blitzschnell in Hosentaschen. Aber auch der harte Kern machte Platz, zog sich allerdings nur langsam zurück.
Na bitte, geht doch, dachte sie und erfreute sich ihrer Autorität.
Dieses Gefühl ging jedoch augenblicklich verloren, als sie in die Arena des Geschehens vorgedrungen war.
Jan blickte sie lange an. Der Blick machte sie unruhig, löste Gänsehaut aus, keine Gefühle, keine Autorität ihr gegenüber erkennbar. Er hatte getan, was er tun wollte. Langsam wischte er seine Hände auf dem Teppich ab.
Vor ihr lag Kai, blutüberströmt, in unmittelbarer Nähe erbrach sich jemand.
Von Anatomie hatte Kello nur wenig Ahnung. Die verpflichtenden Erste-Hilfelehrgänge reichten jedoch aus, um ihr zu sagen, dass das, was da so ekelig in Kais Gesicht brachlag, sein Jochbein war. Sein Unterkiefer war seltsam verschoben, Haut- und Fleischfetzen hingen herab, Blut sickerte nicht, sondern floss wie ein Rinnsal langsam aber beständig aus seinem Mund. Auch der Oberkörper wies seltsame Verrenkungen auf. Sein rechter Unterschenkel stand in einem eigenartigen Winkel zum Knie. Kai war nicht bei Bewusstsein.
Sie beugte sich über ihn und Panik hätte sie befallen wäre nicht die Aufsichtskraft wie aus dem Nichts aufgetaucht.
«Rufen sie den Notarzt und die Polizei, verdammt nochmal.» Wir sprechen uns später, dachte sie gleichzeitig.
Jan schritt langsam Richtung Ausgang. Seine Bewegungen erinnerten an die selbstbewusste Darstellung eines Models.
«Du bleibst hier», schrie Kello und wusste doch gleichzeitig, dass sie bei ihm ihre Macht verloren, nie besessen hatte. Er drehte sich um und zeigte sein unverschämtes, aufreizendes Grinsen.
Der Notarzt kam schnell. Kello konnte ihm ansehen, dass er schockiert war. Sein Schock beruhte nicht auf dem Anblick der Schwere der Verletzungen, die er nun zu behandeln hatte, ganz bestimmt hatte er schon Grausigeres gesehen, sondern auf seinem Unvermögen, sich vorzustellen, welche Brutalität Jugendliche entwickeln konnten.
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