Behutsam aber doch schnell und mit geübten Griffen legten die Sanitäter Kai auf die Trage, rannten mit ihm aus dem Gebäude, rasten mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene davon.
Kello hatte dafür gesorgt, dass kein Schüler mehr in unmittelbarer Umgebung anwesend war. Ruhig und selbstsicher gab sie, von ihrem Auftritt scheinbar berauscht, Anweisungen und überzeugte somit erneut das Kollegium von ihren Fähigkeiten.
Wieder war sie ihrem unausweichlichen Vorhaben einen Schritt weiter gekommen und empfand den Problemschüler Jan als wahres Geschenk. Jan der Kiffer, Jan der Brutalo, der zu allem Fähige, Jan der Einsame.
«Ich bin da», rief sie in den Flur. Erschöpft schmiss sie ihre Schuhe von sich. Erschöpfung ließ sie nur zuhause zu.
«Es war grauenvoll. Du glaubst gar nicht wozu Kids im Stande sind. Die haben sich so geprügelt, dass wir Notarzt und Polizei rufen mussten. Ich war als Erste vor Ort. Stell dir vor, der olle Kulm hatte Aufsicht und hat sich in die letzte Ecke verpieselt. Sieht aus wie ein Affe, aber dass er nun auch Affe spielt, nichts hören, sehen, sprechen ist schon zum Totlachen. Alle Kollegen haben versagt. Hysterie war angesagt. Frau Retlaw hat sogar in den Flur gekotzt. Von Verunreinigung teurer Auslegeware kann man ja Gott sei Dank bei diesem Schrott nicht mehr sprechen», lachte Kello laut und trocken.
«Ich habe alles super gemeistert. Daraus mache ich was, lasse mich zur Heldin auferstehen. Warte nur ab, wie ich die erforderlichen Maßnahmen für Jan umsetze. Souverän, und mit Beschlüssen, die mein Kollegium mit Ehrfurcht vor mir erzittern lassen.» Wieder lachte sie auf, dieses Mal war es aber eher ein gepresstes Glucksen.
«Spaß beiseite. Es ist gut, dass es so Schüler wie Jan gibt. An solchen Typen kann man seine pädagogischen Fähigkeiten oder welche auch immer beweisen. Ich werde daraufhin arbeiten, dass er nicht der Schule verwiesen wird. Ich brauche ihn noch,--- für mich. Aber ein bisschen unheimlich ist er mir schon.»
Sie stand in der Küche, ihr letzter Satz klang ihr noch in den Ohren. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie keinerlei Geräusche aus der Wohnung wahrgenommen hatte, geschweige denn einen Kommentar zu ihren Ausführungen.
Ihr Rücken spannte sich, ihr Magen, wie so oft in letzter Zeit, verkrampfte, die Stille fing an zu schmerzen.
Nicht schon wieder, dachte sie und bewegte sich langsam auf das Wohnzimmer zu.
Ihr Mann saß auf dem Sofa und grinste sie dämlich an. Er war sichtlich bemüht, einen nüchternen Eindruck zu übermitteln, war jedoch so betrunken, dass er bei dem Versuch sich zu erheben, langsam vom Sofa auf den Boden rutschte.
Kello beugte sich über ihn und diagnostizierte aus langjähriger Erfahrung, dass die nächsten Stunden nicht mehr mit ihm zu rechnen war. Voller Verachtung trat sie ihm mit voller Wucht in die Seite. Sollte er morgen über Schmerzen klagen, würde sie es auf einen Sturz zurückführen. Vielleicht würde sie ihm aber auch die wahre Ursache ins Gesicht schleudern und noch einmal zutreten. Angst auf Gegenwehr hatte sie nicht zu befürchten. Die vielen Alkoholexzesse hatten seinen Körper geschwächt und Gegenwehr war noch nie seine Stärke gewesen. Ein Zettel auf dem Tisch informierte sie, dass die Tochter von der Oma abgeholt worden war.
Gut, dass es sie gibt und sie keine Fragen stellt, schoss es Kello durch den Kopf. Was für Fragen bei so eindeutigen Verhältnissen sollten denn auch gestellt werden, beendete sie ihren Monolog.
Eigentlich sollte er jeden Tag stinkbesoffen sein, dachte Kello angewidert. So viel versaufen wie er im nüchternen Zustand verspielt ist gar nicht möglich.
«So 'n Quatsch», sprach sie zu ihrer eigenen Beruhigung laut vor sich hin.
Mühsam schleppte sie sich ins Schlafzimmer, ließ sich ins Bett fallen und rollte sich hilfesuchend in Embryostellung zusammen.
«Das Casino-Verbot hat bundesweit Bestand und außerdem, was soll denn noch verspielt werden?» Kello schreckte hoch. War sie wirklich eingeschlafen? Waren das ihre eigenen Worte?
«Scheiß Traum», schrie sie heraus. Schreien konnte sie hier, nur hier und sie war sich sicher, dass niemand sie wahrnehmen würde.
Irgendetwas stimmte nicht. Warum war er bis zur Bewusstlosigkeit betrunken? Nüchtern war er selten, aber doch ansprechbar und hin und wieder ein guter Gesprächspartner, hingebungsvoller Liebhaber, was all ihre Vorsätze, sich zu trennen immer wieder zunichte machte.
Erschöpft fiel sie in ihr Kissen zurück, unfähig sich von ihren Gedanken zu lösen. Schweißgebadet versank sie in einen Alptraum, der doch nichts anderes als die Wahrheit war. Unfähig sich der Gegenwart zu stellen, ließ sie den Erinnerungen freien Lauf. Sie würde später wieder eingreifen.
‹Casino-Verbot›---gemeinsam hatten sie diese Maßnahme beschlossen, eine Maßnahme, die einer Entmündigung gleichkam. Er war bereit gewesen, sich dieser Demütigung zu unterwerfen. Eine andere Wahl schloss sich ihm aus.
Er liebte seine Frau, sein Kind und eigentlich auch seine finanzielle Situation. Schon lange wollte ihn niemand mehr als Jurist einstellen, zu sehr war sein Gesicht vom Alkohol gezeichnet. Er war davon überzeugt, dass das Gehalt seiner Frau zum Überleben reichte, selbst wenn man seine Spielschulden abzog. Um finanzielle Angelegenheiten kümmerte er sich schon lange nicht mehr, hatte keinerlei Überblick über die Summen, die er verspielte. Selbst wenn er wüsste, wie hoch die familiäre Verschuldung war, hätte das an seiner Spielsucht nichts geändert.
Unruhig schmiss sich Kello im Bett hin und her.
«Los, komm zu dir», flüsterte sie. Langsam setzte sie sich auf, strich die Haare glatt und schlug mehrmals mit der Hand in ihr Gesicht. Sie schleppte sich ins Badezimmer und starrte die Dusche an. Kaltes Wasser war ihr ein Gräuel aber in ihrem jetzigen Zustand wahrscheinlich die einzige Möglichkeit wieder zu klarem Verstand zu finden.
In Zeitlupentempo zog sie sich aus und ließ ihre Kleidungsstücke achtlos auf den Boden fallen. Widerwillig drehte sie die Dusche auf und stellte den Temperaturregler auf lauwarm, kalt schaffte sie nicht.
Es tat gut, sich den ganzen emotionalen Dreck von der Haut zu waschen. Entsetzt stellte sie fest, dass an ihrem linken Arm Blut klebte, nicht ihr Blut. Hatte sie bei der Schlägerei mit Jan doch tatkräftiger eingegriffen als ihr in Erinnerung war? Angeekelt schrubbte sie auf ihrem Arm herum.
Vorsichtig stieg sie aus der Dusche und entnahm einem Schrank ein frisches Handtuch. Langsam, sehr langsam, einer Zelebrierung gleichkommend, trocknete sie sich ab.
Es schien so, als sei ihr linker Arm besonders nass, denn sie trocknete ihn bereits zum dritten Mal ab. Dann jedoch schmiss sie wie elektrisiert das Handtuch im hohen Bogen durch den Raum.
«Wie konnte ich nur so naiv sein, zu glauben, dass ein Casinoverbot dich und unsere Familie schützt? In welcher Hinterzimmerspelunke bist du gewesen? Hast du Arsch jetzt auch noch mein letztes Geldversteck gefunden, bist zu feige es mir zu sagen und betrinkst dich sinnlos?», schrie sie in Richtung Wohnzimmer, ohne sich in dem Moment bewusst zu machen, dass ihre Worte ihn nicht erreichen würden.
Sie stürzte ins Schlafzimmer, riss die Schublade mit ihrer Unterwäsche auf und wühlte zwischen Slips, BHs und Hemdchen herum. Vergeblich suchte sie nach dem, was sie sicher versteckt geglaubt hatte. In Panik zog sie die Schublade vollkommen heraus und kippte den Inhalt auf den Teppich. Da war er, der Umschlag, dessen Inhalt so überlebenswichtig war. Er war aufgerissen, leer und achtlos unter die Wäsche gestopft als hätte er nie eine besondere Bedeutung gehabt.
Kello ließ sich auf den Boden sinken und weinte haltlos.
Nur langsam gelang es ihr, sich zu beruhigen. Sie richtete sich auf und ging schwankend ins Wohnzimmer. Ihr Mann lag noch immer so da, wie sie ihn verlassen hatte.
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