Aus der Mitte der Dunkelheit

«Sie unterschätzen Jan. Er ist zwar noch, noch betone ich, strafunmündig aber der Polizei seit Jahren als Mitglied einer Kinder-und Jugendbande bekannt. Jan verfügt über hohe kriminelle Energien. Vergessen Sie Ihre pädagogische Ader.»

Kello stoppte der Atem. Besser kann es gar nicht sein, schoss es ihr durch den Kopf.

«Jan ist brutal, schreckt vor nichts zurück, hat keinerlei Halt. Sie haben seine Mutter erlebt. Er verachtet sie genauso wie sie sich für ihre Unfähigkeit hasst. Er ist der Prototyp eines Intensivtäters und seine Karriere mit knapp vierzehn Jahren hat erst begonnen. Tun Sie mir einen Gefallen, versuchen Sie nicht, weitere Straftaten zu verdecken und die wird es geben. Zeigen Sie uns an, was vorfällt. Nur so können wir vielleicht Schlimmeres verhindern.»

«Das ist doch selbstverständlich. Sie haben doch selber gesagt, dass Sie mir Naivität nicht zuordnen.»

Busch erhob sich und zeigte wieder sein ironisches Lächeln. «Ich melde mich die nächsten Tage bei dir.» Da war sie wieder, diese unausgesprochene Vertrautheit. Mit einer lässigen Handbewegung schob er einen zehn Euroschein über den Tresen. Das hatte er also auch für sie erledigt.

Sie wollte heute als Erste das Gebäude betreten. Als sie den Schlüssel im Schloss der Eingangstür herumdrehte, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie nicht verschlossen war. Zunächst ärgerte sie sich maßlos, weil sie davon ausging, dass am Vortag der Letzte wieder mal nicht abgeschlossen hatte. Dann kam ihr jedoch der Verdacht, dass schon jemand vor ihr die Schule betreten hatte.

«Verdammte Scheiße», murmelte sie vor sich hin. Sie fluchte gerne und derb, achtete aber peinlichst genau darauf, dass sie dabei keine Zuhörer hatte. Sollte sie nicht alleine im Gebäude sein, konnte sie ihr Vorhaben nicht durchführen. Es ließ sich aber nicht mehr lange hinausschieben. Sie brauchte Geld und das sofort.

Langsam betrat sie ihr Büro und blieb entsetzt in der Tür stehen. Über ihren Schreibtisch ergoss sich eine zähe rote Flüssigkeit. Auf dem Fußboden hatte sich eine Lake gebildet, in die langsam aber beständig mit einem leisen Plopp ein Tropfen versank.

«Das ist ja zum Kotzen. Was soll das», schrie sie und stürzte in Panik aus dem Raum. Auf dem Flur sah sie gerade noch eine Gestalt um die Ecke biegen. Sie rannte hinterher und stand vor Jan. Jan der Schläger, Jan der Haltlose. Jan, dem sie ihr heutiges Vorhaben in die Schuhe schieben wollte, Jan, den sie so dringend als Täter brauchte, Jan, der hier heute nach der Konferenz überhaupt nicht aufzutauchen hatte, Jan, der ihre heutigen Pläne durchkreuzte.

Ihre Wut verwandelte sich in Hass. Sie zerrte ihn am Arm in ihr Büro. «Du gottverdammter Kotzbrocken», brüllte sie ihn an und hieb ihm ihre Faust ins Gesicht. Er wehrte sich nicht, grinste sie nur blutverschmiert an. Diese unverschämte Provokation empfand sie als einen Angriff auf alles was sie geschaffen hatte; angefangen von der hervorragenden Arbeit bis zum Bild ihrer Person, was am schwierigsten war und ihr so viel Kraft abforderte.

Als sie erneut zuschlagen wollte, sah sie aus den Augenwinkeln ihren Kollegen Wolter. Er stand unbeweglich in der Tür, starrte abwechselnd auf die rote Lake und die Szene, die sich im bot.

Kello lehnte an der Wand und war sichtlich bemüht, sich wieder in die Person zu verwandeln, die man glaubte zu kennen. Jan wischte sich das Blut aus dem Gesicht, beachtete Wolter nicht, grinste nur Kello an.

«Herr Wolter, können sie mir mit Jan helfen?» Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Wolter drehte sich wortlos um und verschwand auf dem Flur.

«Hau ab, verschwinde», raunte sie Jan zu.

Aufreizend langsam, ganz langsam bewegte sich Jan Richtung Tür. Im Zeitlupentempo drehte er sich um: «Schönen Tag noch», brachte er mit breitem Grinsen hervor.

Er will sich bei dir rächen, schoss es ihr durch den Kopf. Rächen für die vielen Strafmaßnahmen, die er sich von dir in den letzten Monaten für seine brutalen und emotionslosen Taten an Schülern eingehandelt hat. Von den Sachbeschädigungen ganz zu schweigen. Hätte ihn vielleicht doch das eine oder andere mal anzeigen sollen, statt nur daran zu denken, ihn für meinen eigenen Plan zu benutzen.

Was hatte Wolter gesehen, was hatte Wolter gehört, war der nächste Gedanke den sie fassen konnte. Sie musste ihre Fassung wiedergewinnen, sie musste handeln, schnell handeln, denn das Gebäude füllte sich mit Leben. Ihr Plan war zunächst auf Eis gelegt.

Kello schloss ihre Bürotür, holte ein kleines Glas aus ihrem Schrank und wischte vorsichtig mit der Hand etwas von der roten Flüssigkeit hinein.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Es gelang ihr noch rechtzeitig das Gläschen in der Schreibtischschublade verschwinden zu lassen. Ihre blutrot verschmierte Hand ragte aus ihrer weißen Bluse hervor.

«Um Gottes Willen, Frau Kello. Ist Ihnen was passiert?», brachte der Hausmeister mit Entsetzen hervor. Wie immer sah er aus als hätte sein Friseur Urlaub. Insgesamt ließ seine äußere Erscheinung zu wünschen übrig. Er war nicht sehr zuverlässig; in Notsituationen lief er mitunter jedoch zu Hochformen auf. Schließlich wollte ein Mensch wie er, der nicht gerade vom Glück verfolgt war, hin und wieder Anerkennung erfahren.

«Ich rufe sofort die Polizei.»

«Nein, nein lassen Sie das. Jan hat schon genug Probleme.»

«Sie meinen Jan hat…? Mein Gott, der ist ja noch gefährlicher als ich dachte», schüttelte sich der Hausmeister sichtlich geschockt.

«Bitte machen Sie hier sauber, ich muss weg.»

Nachdem er den Raum verlassen hatte nahm sie schnell das Glas aus dem Schrank, ließ sich Wasser über ihre rotgefärbte Hand laufen und machte sich auf den Weg zu einem Labor, das sie aus eigener medizinischer Untersucheng kannte. «Sind Sie bitte so nett und bestimmen Sie diese Flüssigkeit?»

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