Sie liebte Marbach. Für sie gab es kaum einen schöneren Ort auf der Welt als das ins Lautertal geschmiegte Gestüt mit dem von den Stallungen und dem langgestreckten Verwaltungsgebäuden umgebenen Hof, in dem auf dem Brunnen eine Bronzefigur mit einer Stute und einem Fohlen das Wahrzeichen bildet. Und da war ihr Häuschen, in den 50er Jahren oben an einer der Stutenkoppeln erbaut. Von ihrer Terrasse aus sah sie über die Weiden zu den Laufställen und hinunter ins Tal, in dem die Bereiter morgens auf dem Weg ins Gelände spritzend durch die Furt ritten, die die Lauter bildete.
Doch jetzt war sie im Urlaub – dem ersten großen, seit sie nach Marbach gekommen war. Sie war nach Anchorage geflogen, von dort aus nach Fort Yukon und nun reiste sie weiter an einem Nebenfluss des Yukon hinauf auf die Forschungsstation, in der Benedikt seit drei Jahren die Wanderwege und das Verhalten der Wildlachse untersuchte. Und natürlich würde sie bei Benedikt nicht nur faul herumsitzen, sondern ihm bei seiner Arbeit helfen.
Die Seastar war auf Flughöhe und hatte gen Norden gedreht. Bill steckte seinen Kopf in den Durchgang und rief: »Ihr könnt' euch abschnallen, Folks! Wenn jemand was zu trinken oder ein Sandwich will – vor dem Doppelsitz steht die Kühlbox!«
Titus legte seine Partitur auf den Schoss, nahm die Lesebrille ab, runzelte die Stirn und massierte seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Er lächelte zu Valerie hinüber und sie wunderte, wie jung er plötzlich aussah. »Kaffee? Glauben Sie, ich könnte einen Kaffee haben?«
Sie beugte sich nach vorne und öffnete die Kühlbox, die da angeschnallt stand. Sie war in zwei Abteilungen unterteilt. In der einen waren neben einem Eispack Dosen mit Limonade, Mineralwasser und Bier eingelagert, auf der anderen stand die große Thermoskanne, die der Pilot vorher an der Theke übernommen hatte. Daneben lagen Pappbecher, Tütchen mit Zucker, Plastikbehälter mit Milch und Sticks zum Umrühren. »Sie haben Glück!« sagte Valerie, nahm einen Becher, schenkte ihm einen dampfenden Kaffee ein und fragte: »Milch und Zucker?«
»Weder noch!« Er war aufgestanden und beugte sich zu ihr. »Ich trinke mein Gift pur.« Er nahm ihr den Becher aus der Hand. »Danke.«
Er setzte sich wieder und schaute dabei in seinen Becher. »Sieht aus wie Teer!« stellte er fest. Er trank einen Schluck, verzog das Gesicht und lachte. »Schmeckt auch wie Teer!« Dennoch goss er den Becher hinunter. »Aber vielleicht werde ich davon ein bisschen wacher.«
Valerie angelte sich eine Dose Fanta und ein in Klarsichtfolie verpacktes Sandwich aus der Box, streifte ihre knöchelhohen Stiefel ab, setzte sich wieder und zog die Füße auf das Polster neben sich. Während sie das reichlich trockene Sandwich kaute, schaute sie zum Fenster hinaus Wälder, dazwischen immer wieder die Schleifen eines Flusses, der sich mal träge in einem breiten Bett dahinwälzte und ein andermal durch ein eng eingeschnittenes Tal dahin schoss. Und dann waren da Tümpel und Seen, von Schilf und Mooren umgeben. Valerie konnte sich an der Vielfalt nicht sattsehen. Sie erinnerte sich an die Wanderungen, die sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern gemacht hatte, an weich federnde, moosige Böden, an die Bucheckern und Pilze, die sie gesucht und an einem Lagerfeuer geröstet hatten, an den unverwechselbar erdig-frischen Waldgeruch. Und später dann war sie zu Pferd durch die Wälder gestreift und war sich an Frühlingstagen zwischen den hohen Stämmen eines alten Hochwaldes vorgekommen wie in einer gotischen Kathedrale, in der alles nach dem Himmel und dem Licht strebte.
Ihr Nachbar hatte nun auch eine Weile hinausgeschaut, nun stand er auf und fragte: »Kann ich noch einen Kaffee haben?«
»Gerne.« Valerie nahm ihm den Becher ab und füllte ihn wieder.
»Danke.« Er nahm ihr den Becher ab. »Ist das nicht ein seltsames Land?« fragte er. »So riesig und so leer. Es wirkt fast lebensfeindlich, wenn man so von oben darauf sieht.«
»Finden Sie?« Valerie drehte sich zu ihm. »Leer? Das ist eine sehr anthropozentrische Sicht. Da unten, in diesen Wäldern, ist sehr viel Leben. Hier lebt jede Menge Wild – vom Elch bis zum Bergschaf und mit so viel großem Wild gibt es natürlich auch die entsprechenden Jäger – Grizzlys und Wölfe. Aber lebensfeindlich ist diese Umgebung bestimmt nicht! Hier findet man alles, was man zum Überleben braucht – Nahrung, Baumaterial für einen Unterschlupf, Holz zum Heizen und Kochen, jede Menge sauberes Wasser.«
Er schaute sie sehr skeptisch an. »Sie gehören zu diesen Naturkindern, die vom einfachen Leben träumen?«
»Nö.« Valerie grinste. »Ich lebe auf der Schwäbischen Alb und ich bin tagsüber so viel im Freien, dass ich abends sehr froh bin, in mein gut geheiztes Haus und mein kuschelig weiches, warmes Bett zurück zu kehren. Ich koche gerne auf einem Herd und finde es schön, wenn warmes Wasser aus der Leitung kommt. Ich denke aber, man schätzt diesen Komfort erst richtig, wenn man mal darüber nachdenkt, wie es wäre, wenn man ihn nicht hätte.«
Titus lachte. »Das erinnert mich an einen Freund meines Vaters. Den traf ich mal an einem heißen Sommertag, als er hinter seinem Haus stand und Kaminholz hackte. Ich wunderte mich natürlich, warum er das gerade im Sommer machte, worauf er mir erklärte, dass er das immer so halte. Dabei komme er nämlich richtig ins Schwitzen. Und wenn er dann so eine Stunde geschwitzt und geschuftet habe, schmecke das Bier noch mal so gut.«
»Wenn's der Kreislauf aushält, ist das gar nicht dumm. Ich merk' immer, dass mir das Essen besonders gut schmeckt, wenn ich richtig Hunger habe.«
»Ja – vielleicht sind wir alle zu verwöhnt.« Er schlug die langen Beine übereinander und grinste, dabei zeigte er links und rechts vom Mund Lachgrübchen, die ihn sehr jungenhaft erscheinen ließen. »Ich bin aber dennoch froh, dass ich mir auch beim Aufenthalt hier in der Wildnis mein Mittagessen nicht selbst fangen muss.«
»Ich vermute, da würden Sie hungrig bleiben!«
»Als Jäger und Sammler wäre ich sicher nicht sehr be...« Das Wort blieb ihm im Hals stecken, denn aus dem Cockpit ertönte ein Röcheln – und dann tauchte das Flugzeug schon mit der Nase nach vorne ab.
Valerie war sofort auf den Beinen und mit einem Satz in der Pilotenkanzel. Dort hing Bill über seiner Instrumententafel, den Steuerknüppel unter seinem Bauch festgeklemmt. Er stöhnte noch einmal, dabei drang ein Schwall Blut aus seinem Mund.
»Verdammt ...« brüllte Valerie, griff mit der einen Hand nach dem Mann, der in sich zusammen gesunken war und zog mit der anderen den Steuerknüppel vor dem Sitz des Co-Piloten nach oben. Das Flugzeug reagierte, in dem es sich zur Seite legte. Dabei gewann es aber doch wieder ein wenig an Höhe.
Titus, der hinter Valerie stand, kam trotzdem ins Stolpern, stieß mit der Schulter gegen den Durchgang und rief: »Was wird das?«
Valerie korrigierte die Position des Steuerknüppels. Die Maschine hing immer noch etwas schräg, aber sie stieg, worauf Valerie mit der freien Hand nach dem Hals des zusammen gesunkenen Piloten tastete. »Scheiße!« schimpfte sie leise.
»Was ist?« fragte Titus. Er klang atemlos und sein Gesicht war noch bleicher geworden.
»Er ist tot«, sagte Valerie. »Helfen Sie mir – er hängt auf dem Knüppel! Wir müssen ihn davon wegkriegen!« Sie versuchte, mit einer Hand den schweren Körper nach hinten zu schieben, hatte aber nicht genug Kraft. »Greifen Sie doch zu, verdammt!« befahl sie.
Titus trat einen Schritt nach vorne, fasste nach den Schultern des Piloten und zog ihn energisch nach hinten. Dabei schaute er entsetzt auf das Blut, das auf den Instrumenten stockte. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?« fragte er. »Müssen wir nicht irgendwas für ihn tun?«
»Machen Sie doch mal was bei einem Herz- und Atemstillstand!« Valerie fädelte sich auf den Sitz des Co-Piloten, griff nach dem Steuerknüppel und stabilisierte die Maschine.
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