Louis-Karl Picard-Sioui
Stories aus Kitchike
Der große Absturz
Aus dem Französischen (Québec)
von Sonja Finck und Frank Heibert
und mit einem Nachwort aus
der Übersetzerwerkstatt
Louis-Karl
Picard-Sioui
Stories aus Kitchike
Nous remercions la SODEC pour son soutien.
Wir bedanken uns bei der SODEC für die Förderung der Übersetzung.
Sonja Finck und Frank Heibert bedanken sich beim
Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung
ihrer Arbeit.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Chroniques de Kitchike. La grande débarque. Nouvelles«.
© 2017 Éditions Hannenorak, Louis-Karl Picard-Sioui,
WENDAKE (QUÉBEC)
Erste Auflage
© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Sonja Finck und Frank Heibert
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com
Typografische Gestaltung: Julie Heumüller, Berlin
ISBN 978-3-906910-94-9
eISBN 978-3-906910-95-6
Prolog Kapitel 1
Jean-Paul Paul Jean-Pierre Kapitel 2
Omen Kapitel 3
Powwow Kapitel 4
Währenddessen, in der Stadt nebenan Kapitel 5
»Chez Alphonse Gaz Bar«
Der Käfig
Zombie
Der Mann, der die Sterne zum Tanzen bringt
Der große Absturz
Epilog(e)
Die Kraft der Namen. Nachwort aus der Übersetzerwerkstatt
Jedes Volk lässt Schnee fallen über die dunklen Flecken seiner Geschichte
Wird es frostig zwischen uns bedeckt beim Scheiden Schweigen unsre Lügen
Jean Sioui , Die Zukunft sieht rot
Ein Traumfänger am Rückspiegel, der schadet nicht,
wenn du in deiner Karre pennst, hackedicht,
und die Sterne zählst bis zum Morgenlicht.
Wer pleite ist, fällt hier nicht ins Gewicht,
nicht mal in die Tanke lässt man dich.
Egal, denn unser Chef ist Onkel Jack,
hält schützend seine Hand auch über dich:
»Zieh Federn an und Fransen, das ist Pflicht,
qualm den Minister ein, blas ihm Rauch ins Gesicht,
ein Schrittchen nach rechts, ein Schrittchen nach links,
mach ihm ne Show, dann stimmt der Cashflow,
So schnell, mein Joe, ist für dich noch nicht Schicht.«
Kapitel 1
Dong! Ding, dong!
AAAHHHHH. Saint-Gabriel-de-Kitchike weckt mich mit lauten Glockenschlägen. Mein Kopf will explodieren. Halb in der Matratze versackt, in ein feuchtes Bettlaken verheddert, pelziges Gefühl im Mund. Als hätt ich n Aschenbecher ausgeleckt. Zähne zusammenbeißen, krieg ich ein Auge auf? Na ja, halb. Über mir ein Ventilator, ein Bohrer in der Decke. Fuck, ich bin nicht zu Hause. So viel ist schon mal klar. Auge wieder zu, von dem Karussell an der Decke wird mir kotzübel. Pierre Wabush, du Idiot, du solltest wirklich weniger saufen. Das würde dir Matschbirne und Blackout ersparen.
Dong! Ding, dong! Dong!
Mann, wie soll man denn da wieder einpennen, wenn die Kirchenglocke so einen Radau macht.
Arm ausstrecken, vortasten, weiter, noch ein Stück, okay, Matratzenkante. Uff. Du bist hier das einzige Wrack. Brauchst deinen Mundgeruch mit keinem teilen. Aber wo bist du eigentlich gestrandet? Wüsste man schon gern.
Mal sehen, gestern Abend zurückspulen.
Frühlingsfeuerchen bei Jakob, gab ja was zu feiern: die Rückkehr des verlorenen Sohns. Unser Nationalheld Teandishru’ nimmt sich in letzter Zeit verdammt wichtig, aber was solls. Freund ist Freund, und an der Gitarrre isser echt gut. Deshalb war auch ein Haufen Neugierige und Groupies da, nicht nur die üblichen Verdächtigen, die sich immer die Kante geben wollen. Und weil wir massenhaft Paletten ins Feuer geschmissen haben.
Wer war noch mal alles da? Die Jungs aus der Werkstatt, klar. Der alte Noé, wie immer der Brüller mit seinen absurden Geschichten. Max Yaskawish, der Besitzer der Tanke, natürlich, der Tooktoo-Klan muss vertreten sein. Der junge Cœur-Brisé ist schließlich der Stolz des ganzen Reservats. Das muss man erst mal hinkriegen. Sogar der alte Roméo, unser Haus-und-Hof-Schamane, war da, um die Tournee seines Neffen zu feiern. Seltener Besuch, lässt sich sonst nicht blicken, wenn die Trauergestalten abends aus ihren Löchern gekrochen kommen.
Dong! Ding, dong! Dong!
Konzentrier dich, Wabush. Im Bett vom alten Méo liegst du jedenfalls nicht.
Also, wer von den Ladies war da? Jean-Pauls Schnalle, das weiß ich noch. Sie hat die ganze Zeit wie ein Schießhund aufgepasst, dass er nix trinkt. Unwahrscheinlich, dass die mich abgeschleppt hat. Die kleine Beth von der Basse-Côte, die voll einen auf Groupie gemacht hat. Die würde sich nie dazu herablassen, mit mir in die Kiste zu steigen. Dann noch die Mädels von der Tanke: Stéphanie, die Ex von Charles – von der lass ich schön die Finger –, Sophie Tooktoo und Lydia.
Lydia. Lydia Yaskawish, na klar.
»LYDIA?«
Dong! Ding, dong! Dong!
Schweigen im Walde.
Ich schrei noch lauter, um der Kirche Konkurrenz zu machen, aber ich bin hundertpro sicher, dass ich allein in der Bude bin.
Ich reib mir den Schlaf kiloweise aus den Augen und setz mich mit letzter Kraft auf. Die blutroten Wände, die Sperrholzmöbel, die Poster, Justin Timberlake neben Sitting Bull. Ich bin bei Lydia, so sicher wie das Amen in der Kirche. Schon wieder. Das wolltest du doch bleiben lassen, jetzt merks dir mal, Alter. Aber da denkste halt eher dran, wenn du verkatert flachliegst, als wenn du hacke bist. Und geil. Trotzdem, das wird ja langsam zur Gewohnheit.
Ich hieve meinen Hintern aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach den Shorts und was ich sonst so anhatte. Schnitzeljagd war nie meine Stärke, und weil mein Kopf immer noch explodieren will, starte ich die Expedition erst mal aufm Klo.
Ach nee, sie hat mir ein Post-it an den Spiegelschrank geklebt.
Finger weg von den Blauen .
Oha! Da hat mich jemand durchschaut! Ich will mal nich so sein und geb mich mit den Weißen und den Roten zufrieden.
Sind ja schließlich keine Smarties.
Endlich hält die Kirche das Maul, also könnt ich auch auf die Pillen verzichten, aber sicher ist sicher.
Nach drei Runden durch die Wohnung hab ich alles eingesammelt. Die Shorts lagen im Bett, das T-Shirt im Flur, die Unterhose im Wohnzimmer.
Muss ganz schön abgegangen sein. Respekt, Wabush.
Ich heb einen Fuß, steig in die Unterhose, und als ich ihn wieder abstellen will, ist da was Kaltes, Metallisches, Bewegliches drunter, und ich knall voll auf den Hintern. Shit! Meine Kopfschmerzen schießen ins Steißbein.
Fuck, Lydia, jetzt schmeiß ich doch ein paar Blaue ein. Du hättest deinem kleinen Scarface ja sagen können, er soll seine Matchbox-Autos nicht überall rumfliegen lassen.
Ich rapple mich auf und halte dabei die Luft an, weil ich mir einrede, dass es dann weniger weh tut. Da seh ich das zweite Post-it auf dem Wohnzimmertisch.
Читать дальше