Augen auf im Straßenverkehr!
Ich muss lachen.
Höchste Zeit fürn Abgang.
In dem Moment vibriert mein Telefon.
Nix da! Wabush, du gehst da nicht ran. Du kennst die Regeln. Am Morgen danach ist Funkstille. Okay, sie ist jung und sexy, okay, sie bringt dich sogar in ihrer Abwesenheit zum Lachen. Hab aber trotzdem keinen Bock, meinen Pick-up jeden Abend in derselben Garage zu parken. Vor allem nicht, wenn das heißt, für den kleinen Waso Ersatzpapa zu spielen. Hätt ich Kinder gewollt, hätt ich welche in die Welt gesetzt, und zwar vor meinem Vierzigsten. Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden. Doppelt gearscht ins Leben starten, das wünsche ich keinem.
Ich schnapp mir den Pulli vom Fernseher. Zieh die Socke an, die im Flur rumliegt. Aber wo ist ihre Zwillingsschwester? Ich such in der Wohnung rum wie ein Blöder und find sie nicht. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gestern beim Rausgehen nicht nur eine anhatte.
Shit, ich will hier nicht den ganzen Tag rumhängen. Außerdem krieg ich langsam Hunger.
Ich schleich zum Kühlschrank, hab den Griff schon in der Hand, da schreckt mich der Klingelton von meinem Handy auf. Scheiße, Mann. Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen. Das hat mir grad noch gefehlt. Jetzt klingelt mich auch noch mein Magen an, also raff ich mich auf und öffne den Kühlschrank. Kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ganz oben, unter einem Päckchen mit geräuchertem Elchfleisch in Scheiben, liegt die fehlende Socke. Und, klar, ein gelbes Post-it.
Überraschung!
Bekloppt, diese Lydia. Wird Zeit, dass ich mich vom Acker mache. Ich zieh die Socke an, viel zu kalt, nicht schön, und schling ein paar Scheiben Elch runter. Ich glaub, das sollte ein Geschenk sein, und falls nicht: Rache ist süß.
Dann hab ich zugegebenermaßen einen kleinen Moment der Schwäche. Oder der Erkenntnis. Oder ist es Neugier? Egal. Auf einmal will ichs wissen, entsperr mein Handy und hör mir die Nachricht an. Ist gar nicht von Lydia, falls sie nicht über Nacht mutiert ist. Nee, von einem Typen, den ich ziemlich sicher nicht kenne:
»Geronimo, der Alte sagt, du bist im Boot.
Treffen im Halloway am 17. um Mitternacht.
Erkennungszeichen lila Halstuch.
Sei diskret.«
Mir läufts kalt den Rücken runter. Und das hat nix mit der Kühlschranksocke zu tun. Dann war das also nicht nur Gerede …
Jetzt ist es so weit. Der Regimewechsel kommt. Die Gerechtigkeit Gottes wird unser Reservat treffen, und wies aussieht, wirst du derjenige sein, der das Schwert führt. Handeln, Pierre, nicht immer nur quatschen. Jetzt oder nie.
Ich steck das Handy ein und geh zur Haustür. Aber bevor ich sie öffne, muss ich noch kurz vor dem Foto Halt machen, das neben der Tür hängt. Lydia posiert strahlend mit dem kleinen Waso auf dem Arm. Auf dem Bild ist er noch keine zwei. Hatte seine Narbe noch nicht. Schön war er da, vollkommen.
Kitchike hats drauf, alles kaputtzumachen, was gut und schön ist. Dir den Bauch aufzuschlitzen, dass du durch deine eigenen Eingeweide watest. Mann, Wabush, auch wenn du dich nie fortpflanzen wolltest: Das liegt halt in der Natur des Menschen. Wir sind weiter da. Und es gibt kleine Scheißerchen wie Waso, die hier großwerden müssen, die hier überleben müssen.
Keine Ahnung, ob es an den Post-its liegt, dem geschenkten Elchfleisch, dem Matchbox-Ausrutscher oder einfach am Kater, aber auf einmal hab ich Tränen in den Augen. Bitterböse Tränen der Wut. Wenn ich in meinem Scheißleben irgendwas tun kann, damit unsere Kids in diesem Niemandsland von Reservat eine Chance kriegen – den Zug werd ich nicht verpassen, das schwör ich.
Die Uhr tickt.
Ich knalle die Tür zu.
Pass bloß auf, Kitchike.
Kapitel 2
Eines schönen Morgens stellte Jean-Paul Paul Jean-Pierre gleich nach dem Aufstehen fest, dass sich ein klaffendes Loch bei ihm häuslich eingerichtet hatte. Er hatte keine Zeit für einen Kaffee oder einen Toast, nicht mal für eine Zigarette. Das schwarze Loch hatte sich in aller Frühe selbst eingeladen und das Sofa mit Beschlag belegt, dieses Sofa, das Jean-Paul Paul Jean-Pierre nie so ganz in den Griff bekommen hatte, ganz gleich, wie viele Stunden oder Tage oder Wochen er ihm widmete.
Jean-Paul Paul Jean-Pierre war arbeitslos. Er hatte durchaus schon gearbeitet, unzählige Berufe durchprobiert, aber nichts hatte ihm zugesagt. Jean-Paul Paul Jean-Pierre machte gern etwas mit den Händen, er war ein echter Handwerker, übte sein Handwerk aber nicht mehr aus. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nicht besonders gebildet. Vom Schulunterricht, den Zahlen und Buchstaben in den Büchern, dem ganzen »Stoff ohne Stoff«, wie er es nannte, war nichts in seinem Kopf hängen geblieben. Er erklärte sich das gern so, dass diese »Intellektuellereien« – davon war er überzeugt – nichts für Indianer waren.
Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nämlich ein Indianer. Das Wort hatten die Weißen sich ausgedacht, als sie kapierten, dass Kolumbus nicht in Indien gelandet war, dass die Ureinwohner also keine Inder waren. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war ein Indianer aus Nordamerika. Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer, Angehöriger der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte. Gebürtig aus Kitchike. Er stammte von hier, wohnte hier und hatte hier geheiratet wie seine Eltern, sich dann scheiden lassen und was mit der Freundin des Nachbarn angefangen.
Anders als Jean-Paul Paul Jean-Pierres Eltern war die Freundin des Nachbarn nicht aus Kitchike. Natürlich war auch sie eine eingeborene autochthone indigene nordamerikanische Indianerin, Angehörige der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte, aber sie war eine Algonquin, besser gesagt, eine Anishnaabe. Vor allem kam sie aus der Stadt. Der echten, der wahren, der Großstadt. Nicht aus dem Provinznest nebenan, das die Leute von Kitchike für eine Stadt hielten. Die Freundin des Nachbarn kannte nur wenige Leute in Kitchike. Und als der charmante Nachbar sich immer mehr als ständig ausrastender Aggro-Alki entpuppt hatte, war sie eben zu Jean-Paul Paul Jean-Pierre weitergezogen. Und wie sie so auf seinem Sofa saß und keine Anstalten machte, es wieder zu verlassen, beschloss er, sich ihren Kummer und ihr Leid anzuhören und sie zu trösten. Und dann blieb sie einfach da, ein paar Stunden, eine Nacht, ein Jahr. Ließ sich in seinem Heim, Hirn und Handeln häuslich nieder.
Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm jetzt alles. Die Freundin des Nachbarn – Julie-Frédérique – hatte sich eines schönen Morgens, als er gerade aufgestanden war, bei ihm eingerichtet und auf demselben Sofa Wurzeln geschlagen, wo nun das schwarze Loch klaffte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fragte sich, ob er die Sitzgelegenheit dafür loben sollte, dass sie Julie-Frédérique eingefangen hatte, oder dafür tadeln, dass sie jetzt das schwarze Loch in die Falle gelockt hatte. Dieses Möbel entwickelte wirklich schlimme Angewohnheiten. Es musste endlich gezähmt werden, um klarzustellen, wer hier der Herr im Haus war. Er musste sich Respekt verschaffen, doch Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte von der Psyche eines Sofas keine Ahnung. Er hatte von Psychologie insgesamt keine Ahnung. In Kitchike war das kein besonders weit verbreitetes Fachgebiet.
Wollte man psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, musste man die Linie überqueren, die unsichtbare Grenze, die das Reservat von der benachbarten Ortschaft trennte. Diesen Graben hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre lange gesucht, nachdem er ihn als roten Strich auf der Landkarte des Ministeriums gesehen hatte. Und wenn einer die staubigen Straßen der Old Town in- und auswendig kannte, dann er. Die rote Linie hatte er konkret allerdings nie finden können. Nachdem er Landvermessern einmal live bei der Arbeit zugesehen hatte, lautete seine Schlussfolgerung, dass solche Linien offenbar nur mit den Spezialteleskopen dieses Berufsstandes sichtbar waren. Und auf diesem Instrument konnte Jean-Paul Paul Jean-Pierre nicht spielen.
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