Als Anna zu sich kam, lag sie auf dem Rücken. Irgendjemand hatte einen Papierkorb unter ihre Knie geschoben. Sollten sie ruhig denken, dass ihr Kreislauf den Geist aufgegeben hatte.
„Aua!“ Sie stöhnte, als sie die Beule am Kopf ertastete.
Eine Stunde später stopfte sie sich ein Kissen in den Rücken und drosch auf die Lehne des Sofas ein. Der Chef hatte darauf bestanden, sie für heute nach Hause zu schicken. Anna mochte es nicht, wenn andere sich um sie sorgten und sie hasste es, Dank zu schulden.
Mithilfe der Beruhigungspillen, die Dr. Chlodwig ihr verschrieben hatte, konnte sie einige Stunden tief schlafen, ehe die Albträume sie von Neuem einholten. Schon am nächsten Morgen ging sie wieder zur Arbeit. Sie war früh dran, für die nächste Stunde gehörte die Firma ihr allein. Sie nutzte die Zeit, um das Büro des Chefs zu durchschnüffeln. Zuerst las sie die Anfragen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Vielleicht wäre ja eine darunter, mit der sie sich profilieren konnte.
„Oh nein, nicht schon wieder.“ Die Durchblutung in den Händen schien nachzulassen. Schlagartig begriff Anna, wie unüberlegt sie gehandelt hatte. Was wäre, wenn sie geradewegs hinter dem Schreibtisch des Chefs, zusammenklappte? Raus hier . Sie warf die Akte auf den Tisch und stürmte zurück zu ihrem Schreibtisch. Atemlos ließ sie sich in den Stuhl fallen. Immer wieder starrte sie auf ihre Uhr. Der Rhythmus ihrer inneren Zeit hämmerte voran, fand jedoch keine Entsprechung in der Wirklichkeit. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. Sie verspürte den Drang, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, immer wieder, nur, damit endlich diese Gefühle aufhörten. Alles wäre besser als das.
Als Anna am nächsten Morgen erwachte, blieb sie liegen. In der Nacht hatte sie eine Stunde lang den Esszimmertisch umrundet, getrieben, wie ein Tier im Käfig. Die gleichförmige Bewegung hatte die Angst gelindert, doch sie leider nicht aufgelöst. Der Schlafentzug gab ihr den Rest. Alle Kraftreserven waren aufgebraucht. Die Tage vergingen, ohne dass sich Annas Zustand veränderte. Es gab Momente, da fühlte sie sich besser, da fand sie Schlaf, doch niemals im Bett. Das Schlafzimmer mutierte zum Ort des Horrors. Und nun gab es nichts Essbares mehr im Haus, sie musste einkaufen. Sie stand an der Tür, seit 15 Minuten, die Klinke niedergedrückt. Sie konzentrierte sich auf die Atmung, zählte bis zehn, versuchte die Tür zu öffnen, doch der Arm gehorchte ihr nicht. Sie schloss die Augen und zählte erneut. Endlich gelang es ihr, das Haus zu verlassen.
Warum es ihr so schwer fiel und was sie auf der Straße zu befürchten hatte, wusste Anna nicht zu sagen. Diffuse Ängste fraßen ihre Vernunft gnadenlos auf. Es gelang ihr nicht, die verquere Welt in ihrem Kopf, die dafür verantwortlich war, zu beeinflussen.
In der kühlen Luft fiel das Atmen leichter. Zügig schritt Anna aus, der Rhythmus ihrer Schritte füllte ihren Geist und alle Gedanken schienen zu ihren Füßen zu strömen. Kilometer um Kilometer legte sie so zurück. Als sie am Wegrand eine Bank entdeckte, ruhte sie aus, den Blick starr auf den Horizont gerichtet. Sie durfte ihren Gedanken keinen Raum geben, sonst käme die Angst zurück. Irgendwann schlug sie den Rückweg ein. Im Supermarkt trödelte sie herum, es schien ihr unmöglich, in die Wohnung zurückzukehren. Dieselbe Wohnung, die zu verlassen sie sich vor ein paar Stunden nicht hatte vorstellen können. Sie öffnete die Haustür. Das Blut rauschte in ihren Ohren, kaum dass sie die Treppe bewältigt hatte. Sie stolperte hinein, es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Schwankend erreichte sie das Sofa. Sie ließ sich fallen, wie ein Baby rollte sie sich zusammen. Schließlich ergriff sie die Decke und versteckte sich vor der Welt.
Mindestens eine Woche lang blieb Anna daheim. Nur einmal ging sie zu Dr. Chlodwig. Doch nach einigen gestärkten Stunden rutschte sie erneut in die Dunkelheit. Nur der Traum war lebendig, die Wunden sichtbar und unbegreiflich. Stundenlang starrte sie die Landschaften über dem Kaminofen an. Sie hatte sie im letzten Jahr auf den Lofoten selbst fotografiert. Anna liebte die großartige Kulisse von Norwegens Fjorden, und die Dörfchen mit den bunten Holzhäusern beeindruckten sie stets aufs Neue. Heute jedoch glitt ihr Blick hindurch in ein fernes und unbekanntes Nichts.
Das Telefon klingelte, Anna presste die Handflächen auf die Ohren. Sie wollte es nicht hören, es quälte und verhöhnte sie. Warum sollte sie das Gespräch annehmen? Mit wem auch immer sprechen? Niemand konnte ihr helfen.
Eine halbe Stunde später läutete die Türglocke. Anna öffnete nicht. Ein Schlüssel fuhr in das Schloss, der Mechanismus klickte, dann schwang die Tür nach innen. Anna wusste sofort, wer sich da unaufhaltsam näherte. Nur eine Person hatte einen Zweitschlüssel: Die eiskalte Maria.
„Was ist los?“, rief diese, kaum, dass sie eingetreten war. Sie klang ungehalten. Ohne eine Erkrankung Annas auch nur in Betracht zu ziehen, fiel Maria über sie her.
„Warum gehst du nicht ans Telefon? Oh mein Gott, wie du riechst, du solltest wirklich hin und wieder duschen.“ Maria schritt durch die Wohnung und rümpfte die Nase. „Wie lange warst du nicht im Büro?“ Anna antwortete nicht. „Meinst du, auf diese Weise kannst du Karriere machen?“ Maria gab sich die Antwort selbst. „Wohl kaum. Das lässt sich kein Unternehmen lange gefallen. Wahrscheinlich sitzt schon nächste Woche eine hübsche Universitätsabgängerin auf deinem Stuhl.“
Anna öffnete den Mund, obwohl sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Sie konnte auf Jahre voller Predigten zurückblicken. Wie so oft sog sie die Wange ein und zerbiss die Haut der Innenseite, bis der Schmerz in ihr Bewusstsein drang. Als sie Blut schmeckte, presste sie die Zungenspitze gegen die wunde Stelle.
„Was ziehst du für Grimassen?“, geiferte ihre Mutter. „Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst und dann zieh dir was Anständiges an! Ich fahre dich zur Arbeit.“
„Oh Gott!“ Anna rannte ins Bad. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr den Toilettendeckel anzuheben, ehe sie die Reste des Frühstücks erbrach. In ihrer Kehle brannte Magensäure, und in ihren Augen brannten Tränen. Tränen der Angst, doch auch der Wut. In diesem Augenblick hasste sie ihre Mutter noch mehr als zuvor. Wie dumm sie gewesen war. Sie hätte es wissen müssen. Natürlich ließe sich Maria die Gelegenheit nicht entgehen, sie zu demütigen. Warum nur hatte sie ihr die Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen? Aber wem hätte sie ihre Zweitschlüssel anderfalls anvertrauen sollen? Es gab niemanden sonst in ihrem Leben.
Fünfzehn Minuten später stand Anna vor dem Spiegel.
„Wann lässt du endlich deine Augenbrauen ordentlich zupfen? So nimmt dich niemand ernst.“
„Hauptsache du nimmst mich ernst“, flüsterte Anna.
„Bitte, was?“
„Ach schon gut.“
Maria schien Annas Resignation zu entgehen. Das war nichts Neues. Maria ignorierte die Gefühlswelt ihrer Tochter, solange Anna sich erinnern konnte. Sie legte ausschließlich Wert auf Äußerlichkeiten. Stets klassisch in gedeckten Farben gekleidt, die Frisur seit 30 Jahren unverändert, sah sie immer gleich aus. Kein Haar hätte es gewagt, eigene Wege zu gehen. Einmal war dem Coiffeur ein Missgeschick passiert, als er die Haartönung eine Nuance dunkler gewählt hatte. Maria hatte nicht gezögert, den Mann auf Schadenersatz verklagt und selbstverständlich gewonnen. Die Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres verwendete, ließ sie bedauerlicherweise bei ihren inneren Werten vermissen. Freundlichkeit und Herzenswärme lagen ihrem Wesen so fern, wie die Bahamas der Mongolei. Humor war ihr fremd, gelegentlich ließ sie sich zwar zu bissiger Schadenfreude herab, ihr Wesen jedoch blieb hart und unnahbar. Nicht ohne Grund trug sie den Schimpfnamen ‚eiskalte Maria’. Wüsste sie davon, sie empfände ihn sicherlich als Auszeichnung.
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