Montag, 16. August
Der Minutenzeiger rückte vorwärts, Anna warf sich mit einem Seufzer die Jacke über die Schulter, ergriff den Regenschirm und verließ das Büro. Es half nichts, sie musste sich überwinden. Eine halbe Stunde später erreichte sie die Praxis. Sie hatte diese Praxis ausgesucht, weil Dr. Chlodwig nicht nur als Psychiater arbeitete, sondern gleichzeitig eine Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten vorweisen konnte. So blieben ihr, falls er ihr eine Therapie verschreiben wollte, die mühsame Suche nach einem Therapeuten und die wochenlange Warterei auf einen Therapieplatz erspart.
Das Wartezimmer enthielt kaum noch Sauerstoff. In der stickigen Luft fiel das Atmen schwer, ohnehin drohte Anna zu hyperventilieren. Die Wände waren schmucklos weiß getüncht. Wie im Kino waren mehrere Sitzschalen auf ein metallenes Gestell geschraubt. Die Sterilität des Raums strahlte Kälte aus, die gut zu Annas Bauchgefühl passte. Ein eisiger Klumpen, der stetig anzuwachsen schien, drückte gegen ihre Speiseröhre. Anna starrte auf ein Loch im Putz. Ein Unermüdlicher musste es mit dem Fingernagel gegraben haben. Beinahe beneidete sie ihn um diese Beschäftigungstherapie. Warum dauerte es so lange? Der letzte Patient hatte doch schon längst seine Jacke vom Garderobenständer genommen und war gegangen. Anna schwitzte auf dem Plastikstuhl, sie saß zu lange dort. Sobald sie aufstünde, das wusste sie, bliebe ein Feuchtigkeitsfilm zurück, peinlich und eklig.
Endlich schob die Sprechstundenhilfe den Kopf um die Ecke.
„Frau Koudras, Sie können jetzt zu Herrn Doktor Chlodwig hineingehen.“ Sie sprach leise mit beruhigendem Unterton.
Anna erhob sich und folgte ihr in einen kleinen Flur. Der Arzt erwartete sie bereits. Er stand an der Tür zu seinem Sprechzimmer und füllte den Türrahmen beinahe vollständig aus. „Ach Du Himmel, ist der jung“, schoss es Anna in den Sinn. Immerhin, er lächelte und reichte ihr die Hand.
„Au!“ Sein Griff schmerzte. Kein Wunder, bei diesen Pranken. Sofort ließ der Arzt Annas Hand los.
„Ich bitte um Verzeihung.“ Er gab den Weg frei und Anna trat ein. Genauso hatte sie sich das Zimmer vorgestellt: Korbsessel und Topfpflanzen, die Wände pastellfarben gestrichen.
„Dr. Michael Chlodwig, wundern Sie sich bitte nicht. Ich sehe jünger aus, als ich bin“, stellte er sich vor. „Nehmen Sie Platz und erzählen mir, warum sie hier sind. Wir kriegen Sie bestimmt wieder flott.“ Anna zuckte zusammen. Wie bitte? Sie war doch kein kaputtes Auto. „Spaß beiseite.“ Er senkte seine Stimme. „Was kann ich für Sie tun?“
Nun saß sie schon einmal da und Dr. Chlodwig erschien ihr ebenso gut oder schlecht, wie jeder andere. Darum überwand sie sich schließlich und erzählte ihm von ihren Träumen. „Das Merkwürdigste ist“, schloss sie ihren Bericht, „dass ich mir nicht erklären kann, woher die Wunden kommen. Sie sind einfach da, wenn ich morgens aufwache.“
„Wie fühlen Sie sich dabei?“, wollte Dr. Chlodwig wissen. Diese Frage hatte Anna erwartet, jetzt kam das typische Psychogeschwafel.
„Großartig natürlich. Wäre ich sonst hier?“
Der Arzt rutschte kurz in seinem Korbsessel nach hinten, richtete sich ganz leicht auf und lächelte. „Das meine ich nicht. Ärgern Sie die Wunden, machen sie Ihnen Angst? Es geschieht nachts etwas, das nicht Ihrer Kontrolle unterliegt. Was löst das in Ihnen aus?“
„Bis jetzt komme ich gut klar.“
„Hm …“ Der junge Arzt schwieg eine Weile, nahm aber den Blick nicht von Anna. „Wollen oder können Sie mir nicht vertrauen?“
„Ich kenne Sie doch kaum.“ Warum sollte sie lügen?
„Das verstehe ich.“ Selbstverständlich verstand er das. Verständnis gehörte zu den Spielregeln, gewiss fand jeder Irre, der in seinem Wartezimmer saß, hier Verständnis.
„Kommen Sie einmal mit!“ Der Arzt führte Anna zu einer Tür an der Stirnseite des Sprechzimmers. Dahinter lag ein Büro.
„Na, der Innenarchitekt wird nicht billig gewesen sein“, entfuhr es ihr. Dr. Chlodwig griente und trat an einen Schreibtisch. Die dicke Glasplatte schimmerte grünlich. Bis auf eine Lampe im altenglischen Stil und einen Federhalter war der Tisch leer. An den Wänden hingen gerahmte Dokumente und über einer Designercouch prangte ein Original von Roy Lichtenstein.
„Ich möchte, dass Sie Vertrauen zu mir fassen. Nur so können wir Ihre Dämonen besiegen“, sagte der Arzt. Gleich darauf berichtete er von seinem Werdegang. Er führte Anna durch den Raum, zeigte auf Diplome und Zertifikate von Weiterbildungen, die er mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, und erklärte den Sinn seiner Diagnosemethoden und therapeutischen Schritte. Er protzte herum. Und doch wirkte er bei all dem derart jungenhaft stolz, dass Anna es ihm nicht übel nehmen konnte. „Zuletzt habe ich mich mit Hypnose befasst.“ Er schien ehrlich begeistert, seine Wangen hatten eine leichte Röte angenommen, seine Augen leuchteten.
„Sehen Sie“, sagte er, nachdem sie ins Sprechzimmer zurückgekehrt waren. „Ich weiß, ich bin sehr ehrgeizig. Aber glauben Sie mir, bei mir sind Sie in guten Händen.“
„Und Sie glauben, das reicht mir?“, fragte Anna. „Ich bin sicher, Sie sind ein guter Arzt und ich werde auch wieder kommen, doch nur, weil ein paar Zertifikate an Ihrer Wand hängen, vertraue ich Ihnen noch lange nicht alle meine Geheimnisse an.“
„Klare Worte“, antwortete der Arzt. „Sie müssen mir eine Chance geben, dann kann ich Ihnen helfen. Das funktioniert nicht ohne Ihre Mitarbeit.“ Mit diesen Worten entließ er sie, nachdem sie regelmäßige Therapiegespräche vereinbart hatten.
Als Anna wieder auf der Straße stand, betrachtete sie das Praxisschild. Standard, einfache Schrift auf Metall, nie und nimmer hatte das der Arzt persönlich ausgesucht.
Freitag, 3. September
Dunkelheit, undurchdringlich. Anna kneift die Augen fest zusammen. Sie hofft Umrisse zu erkennen. Aber vergeblich. Schritt für Schritt tastet sie sich vorwärts. Rotz tropft aus ihrer Nase, doch das stört sie nicht mehr. Sie fällt der Länge nach hin, schlägt hart mit dem Kinn auf den Boden. Der Dreck schmeckt widerlich. Sie spuckt aus, kann jedoch den Geschmack nicht vertreiben. Sie muss aufstehen, weiter, sich in Sicherheit bringen. Was lauert da in der Dunkelheit? Sie rappelt sich auf, läuft los. Die Stimmen werden lauter. Sie verfolgen sie. Sie sind hinter ihr her, doch warum? Was hat sie getan? Vor ihr ist Licht. Die Verfolger kommen näher, sie wird es nicht schaffen. Da ist eine Mauer. Sie springt, spürt Widerstand ehe ihre Kleider reißen, kriecht vorwärts. und wieder schließt sich die Hand unbarmherzig um ihren Knöchel.
Waren es zunächst verschwommene Bilder gewesen, drang Anna von nun an Nacht für Nacht tiefer in eine fremde Welt. Sie hörte Stimmen, die sie beschimpften, verfing sich in Stacheldraht, der in ihre Arme drückte, wurde von groben Händen zurückgerissen. Und stets entdeckte sie am Morgen neue Wunden. Hinter den Träumen stand sprungbereit die Angst, setzte sich fest in ihr. Die Übungen, die Dr. Chlodwig ihr beigebracht hatte, halfen nicht. Andauernd versuchte sie, „ Realität herzustellen“ . Der Quacksalber konnte viel erzählen. Im Grunde glaubte Anna, dass Angst niemanden tötete. Doch mitten in der Angstattacke, wenn der Nachhall des Traums wütete, war das vergessen.
Trotz ihres Zustands ging sie zur Arbeit. Während einer Sitzung begannen Annas Fingerspitzen zu kribbeln. Die Luft schien sich zu verdicken, sich dagegen zu wehren, eingeatmet zu werden. Anna biss die Zähne zusammen. Sie kämpfte. Ihre Position, als einzige Frau im Team, ließ es nicht zu, Schwäche zu zeigen. Zu hart hatte sie gearbeitet, um den erreichten Status leichtherzig wegzuwerfen.
Die Kollegen verschwammen vor ihren Augen, sie blinzelte, verlor die Orientierung. Warum wankte der Typ, hatte er getrunken? Mit einem Mal ging das Licht aus.
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