Bis zum Einmarsch der Römer hatte die pompejanische Oberschicht die Geschicke der Stadt geleitet. Die herrschenden Familien hatten sich nicht mit dem Machtentzug abfinden wollen. So war es unweigerlich zu Konflikten gekommen, die seit Jahrzehnten anhielten. Die Römer fühlten sich von den Pompejanern bedroht. Die Zusammenkünfte im Tempel schienen ihnen ein besonderer Dorn im Auge zu sein.
Unruhig blickte sich Delia um, sie durfte auf keinen Fall entdeckt werden. Sie war nicht mehr gut zu Fuß. Seit sie das Amt der obersten Priesterin von ihrer Mutter übernommen hatte, waren Jahrzehnte vergangen. Inzwischen hatte sie selbst Kinder geboren und groß gezogen. Die Römer hatten Pläne ersonnen, um die Macht der Pompejaner zu schwächen. So hatten sie gefälschte Berichte über magische Riten und blutige Opfergaben nach Rom gesandt. Der Senat hatte den Berichten Glauben geschenkt und die Anbetung der Zwillingsgötter verboten. Der Tempel war geschlossen worden und diente seitdem als Vorratshaus.
Zahlreiche Priester und Priesterinnen gehörten zu Pompejis einflussreichsten Familien. Auch Delia entstammte einer solchen. Trotz der Verfolgung durch die Römer hatten die Gläubigen niemals von der Religion der gebundenen Zeit abgelassen. Jetzt wirkten sie im Geheimen. Delia hatte in ihrem Landhaus eine Basilika eingerichtet. Dort, in der Villa der Mysterien, traten die Gläubigen zusammen und huldigten den Göttern. Jeder von ihnen schwebte in großer Gefahr, denn die Römer verfolgten die Gläubigen. Viele Menschen wurden bestraft oder sogar hingerichtet, weil sie bei Riten zu Ehren der Götter beobachtet worden waren. Die Anhänger der Religion der gebundenen Zeit waren stets glückliche Menschen gewesen, die im hellen Licht der Sonne Feste und Rituale gefeiert hatten. Doch nun blieb ihnen nichts als der Schutz der Nacht.
Delia atmete auf, als sie das Portal der Villa durchschritt. Ungesehen huschte sie in das Innere des Hauses.
Frühjahr des Jahres 10 nach Christi Geburt
Als das Feuer verloderte, strich sich Nephele die Tränen aus dem Gesicht. Jeder Tod bot Anlass zur Trauer, doch heute hatten sie die sterblichen Überreste von Delia dem Feuer übergegeben. Nephele trauerte um ihre Mutter, die zugleich die oberste Priesterin der Religion der gebundenen Zeit gewesen war. Aber viel Zeit blieb ihr nicht. Schon in wenigen Stunden sollte Nephele selbst diese Rolle übernehmen und ihrer Mutter als oberste Priesterin nachfolgen.
Nur wenige Gläubige wagten, die Zeremonie zu besuchen. Als Nephele den Gebetsraum in der Villa der Mysterien betrat, wunderte sie sich nicht. Kaum eine Handvoll Menschen würde dem Ritual beiwohnen. Die Gemeinschaft der Gläubigen nahm im gleichen Maß ab, wie die Gewalt der Römer gegen sie zunahm. Niemand konnte den Menschen die Vorsicht verübeln, denn die Römer verbreiteten Angst und Schrecken unter ihnen. Viele hatten bereits Freunde und Familienangehörige verloren.
Wie so oft bei wichtigen Anlässen wohnten auch heute Artemis und Apollon persönlich der Zeremonie bei. Nephele hatte den Göttern bisher nur ein einziges Mal gegenübergestanden. Es lag Jahre zurück. Sie beeilte sich ihren Platz einzunehmen. Respektvoll beugte sie die zitternden Knie vor den Zwillingsgöttern.
Als die Weihezeremonie endete, baten die Götter gegen ihre Gewohnheit die Anwesenden noch einmal um Gehör.
„Meine Kinder“, sprach Artemis. „Wir sehen sehr wohl, was in dieser Welt geschieht. Wir sehen, welche Opfer die Gemeinschaft erbringt, um den Glauben an unsere Göttlichkeit zu erhalten. Wir sehen die Toten und beweinen sie, doch wisset, jene, die die Welt liebten, reiten auf dem Rücken des Nordwinds in das gesegnete Reich der Hyperboreer. Und die Bewundernswerten entscheiden selbst, wann ihre Seele erneut auf Erden wandeln wird. So trauert nicht länger, sondern erfreut euch der Begabungen, mit denen wir, als Dank für die bedingungslose Liebe und Treue, die ihr uns entgegen bringt, heute euer Leben bereichern möchten. Mögen die Gaben euch nutzen und dienen.“
Und Apollon und Artemis teilten die göttlichen Gaben mit ihren sterblichen Anhängern. Apollon schenkte die Begabung des Heilens und die Fähigkeit der Weissagung. Fortan vermochten die Gläubigen der Religion der gebunden Zeit Kranke zu heilen und Ereignisse vorherzusehen. Artemis hingegen gewährte das Talent der Gestaltwandlung, das Wissen um die Kräuter sowie die Gifte von Pflanzen und Tieren. Und alle Gläubigen dieser Stunde vermochten ihre Gestalt, ebenso wie die Göttin, in die eines Tieres zu wandeln, in eine Katze, einen Skorpion, eine Hirschkuh oder eine Bärin. Sie vermochten mit Kräutern Rituale zu wirken und das Gift von Pflanzen und Tieren in ihrem Sinne zu nutzen.
Voller Freude und Ehrfurcht nahmen die Gläubigen diese Geschenke entgegen. Doch ehe die Zwillingsgötter die Glaubensgemeinschaft an diesem Tag verließen, erteilten sie den Sterblichen eine letzte Anweisung.
„Achtet darauf die Gaben geheim zu halten, pflegt sie im Stillen und gebt das Wissen um sie an die nachfolgenden Generationen weiter.“
Frühjahr des Jahres 10 nach Christi Geburt
Donner hallte durch die Wolken, Blitze spritzen zu Boden wie Wasserfontänen. Inmitten dieses Unwetters standen Artemis und Apollon mit hoch erhobenem Haupt. Sie sprachen kein Wort, und es schien auch unmöglich, des Göttervaters Wüten zu unterbrechen. Stundenlang tobte das Gewitter. Zeus ließ seiner Verärgerung freien Lauf. Wie hatten die Zwillingsgötter die göttlichen Gaben, die ihnen gewährt wurden, nur derart leichtherzig den Sterblichen überlassen können? Wieder ging eine Salve von Blitzen neben ihnen nieder. Kein Gott des Olymps hatte jemals zuvor einen solchen Frevel begangen.
Gebeutelt von gerechtem Zorn verschloss sich Zeus allen Argumenten. Er schien geneigt, seine Kinder aus dem Olymp zu verbannen, lediglich die Fürsprache Letos‘ ließ ihn diese Entscheidung noch einmal überdenken. Doch ohne Strafe sollten sie nicht von dannen ziehen dürfen. So nahm Zeus Artemis und Apollon all jene Gaben, die sie zuvor mit den Gläubigen geteilt hatten. Lediglich die Bindung an den Lauf der Zeit blieb ihnen erhalten. In alle Ewigkeit sollten sie über die Jahreszeiten wachen.
Tiefe Trauer schüttelte die Herzen der Zwillingsgötter. Sie weinten und flehten ihren Vater an, ihnen zu vergeben und ihnen die Gaben zurückzugewähren. Doch Zeus ließ sich nicht erweichen und als sich Apollon und Artemis schließlich zurückziehen durften, blieb ihnen nichts, als das Gefühl von Leere, das fortan ihre Seele erfüllen sollte.
Frühjahr des Jahres 10 nach Christi Geburt
Der Zorn des Zeus erschütterte den Olymp noch Tage danach, und Verzweiflung erfasste die Zwillingsgötter. In ihrer Gram waren sie nicht länger Herr ihrer Sinne, und sie zürnten den Sterblichen. Sie wandten sich an die Priester und Priesterinnen der Religion der gebundenen Zeit und forderten ihre so leichtfertig hingegebenen Geschenke zurück.
Die Menschen fürchteten sich vor den Göttern. Nur Nephele wagte es, Apollon und Artemis entgegen zu treten. Wie gern hätte sie den Göttern geholfen, doch es stand nicht in ihrer Macht. Dennoch rief sie die Priesterschaft zusammen. Gemeinsam praktizierten sie jegliche Riten und Gebete, die sie kannten, doch es gelang ihnen nicht, die Gaben zurückzugeben. Tagelang saßen sie in der Villa der Mysterien beieinander, berieten sich und suchten nach einer Lösung. Schließlich trat Nephele vor die Götter.
„Oh Apollon, oh Artemis,“, sprach sie. „Geliebte Hüter der Welt und der Zeit, eine Rückgabe Eurer großzügigen Gaben ist uns Sterblichen nicht möglich, bitte vergebt uns. Jedoch wollen wir alle zusammenkommen, um ein Portal zu schaffen, das euch durch die Zeit gehen lässt. So sollt ihr in früheren, glücklicheren Tagen die Mächte vorfinden, die ihr euren treuen Dienern schenktet.“
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