Artemis und Apollon schöpften Hoffnung. Eines Nachts traten die Gläubigen zusammen und gemeinsam mit der Kraft der Götter schufen sie aus dem Gebet des Todes und der Auferstehung eine strahlende Säulenhalle außerhalb von Zeit und Raum. Durchschritten die Götter die Halle, würden sie zurück in die Zeit gelangen, da sie ihre Fähigkeiten noch besessen hatten. Durchschritt jedoch ein Sterblicher das Portal, würde sein Weg ihn in eine frühere Inkarnation führen, denn nur die menschliche Seele sollte in der Lage sein, die Zeit zu durchwandern.
Voll des Glücks dankten die Götter der Gemeinde. Doch das Wissen um das Portal und die Säulenhalle durfte den Kreis der Eingeweihten niemals verlassen. Nephele versprach, das Tor zu hüten. Das Wissen sollte von nun an stets von der obersten Priesterin an ihre Nachfolgerin weitergegeben werden. Und so weihten die Götter, ehe sie schieden, Nephele zur Hüterin der Säulenhalle.
24. August des Jahres 79 nach Christi
Das Erdbeben, das am 5. Februar im Jahre 62 nach Chr. die Stadt erschüttert hatte, galt als Vorbote des Schicksals. Schon damals musste sich der Schlotpfropfen des Vesuvs gelockert haben. Doch die Erde beruhigte sich und viele Jahre gingen ins Land. Die Bewohner der Stadt dachten nicht mehr an das Beben.
Siebzehn Jahre vergingen. Am 24. August des Jahres 79 nach Chr., um 10 Uhr morgens stieg der Dampfdruck in der Magmakammer derart an, dass der Innendruck den gelockerten Pfropfen überwand, schlagartig zertrümmerte und in den Himmel hinaus schleuderte. Gleich darauf spuckte der Vesuv Unmengen von Asche, Lava, Gasen und Steinen in die Atmosphäre. Es regnete Bimsstein auf die Bewohner, Dächer stürzten ein und Türen wurden blockiert. Viele Unglückliche wurden in der Stadt eingeschlossen.
Achtzehn Stunden dauerte das Wüten. Am Ende erlagen die Bewohner der Stadt dem Ausbruch, die meisten fielen den tödlichen Phosphordämpfen zum Opfer, und diejenigen, die diese überlebten, wurden von den Glutlawinen, die dem Ausbruch folgten, getötet. Drei Tage lang verdunkelte die Wolke den Himmel.
Zurück blieb ödes Land, aber keine Menschenseele, die den Tod vieler Tausender hätten beweinen können.
2. Köln, 2010 - 4. August bis 16. September
Mittwoch, 4. August, mitten in der Nacht
Die Hand schließt sich um Annas Knöchel. Sie hört eine Stimme. Sie kann die Worte nicht verstehen. Sie zittert, fürchtet sich; Sie friert. Ihre Zähne schlagen aufeinander. Dunkelheit herrscht um sie herum. Ist sie gefangen? Wie jede Nacht durchlebt sie diesen Traum. Wie jede Nacht will sie ihn ergreifen, doch kaum dass sie erwacht, entgleitet er ihr. Stattdessen fällt die Panik über sie her, krallt sich in ihren Rücken wie eine Raubkatze, und atmet in ihren Nacken. Sie fühlt sich hilflos, einsam, sie bekommt keine Luft . Egal wie tief sie einatmet, kein Sauerstoff kommt in den Lungen an. „ Bleib ruhig , Luft anhalten ; zähl bis fünf!“, ruft sie sich zu. Sie hält es nicht aus, es wird niemals aufhören. Die Beklemmung zerrt an ihr, zieht sie hinab in ein Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt. Warum hilft denn niemand? Sie kann es nicht länger ertragen, ausgeliefert zu sein. „ Lass los, Luft anhalten , zählen , einatmen! Atme, konzentriere dich, du schaffst es! – Eins – zwei – drei – vier - fünf – und ausatmen!“
Der Schwindel ebbte ab, aber noch gelang es Anna nicht, die Augen zu öffnen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Lider trotzig zusammen. Obwohl sie schon lange erwachsen war, hielt sie einen hellblauen Teddybär im Arm. Genau genommen war er eher schmutzig grau. Selbst ein Waschgang hatte ihm seine Farbe nicht wiedergeben können. Sein Pelz wies kahle Stellen auf und ihm fehlte jede Rundung, er wirkte geradezu flunderartig zweidimensional. Trotzdem liebte Anna den Bären, er wohnte tagsüber auf ihrem Bett und leistete ihr in der Nacht Gesellschaft.
Sie schlug die Augen auf und versuchte sich zu orientieren. Normalerweise strahlte der Raum Ruhe aus, war Annas Refugium, dessen Einrichtung sie mit viel Liebe ausgewählt hatte. Heute jedoch blieb der Frieden aus. Während sie sich aufsetzte, sog sie die verbrauchte Luft ein, es stank nach Schweiß und Angst. Noch unter dem Einfluss des Albtraums klopfte sie das Kissen aus und strich über die Bettwäsche.
Mit einem Mal schien Blut die Wand hinab zu rinnen. Entsetzt schrie Anna auf. In Panik warf sie ihr Kissen und die Decke aus dem Bett. Ihr Herz raste. Sie schmeckte Metall. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie sich die Zunge zerbissen hatte.
An der Wand dem Bett gegenüber hingen zwei Strandszenen, bei deren Anblick sie sich so oft zurück an den Strand von Fehmarn träumte. Nun liefen rote Schlieren über die Bilder. Schon drohte Anna in den Schrecken des Traums zurückzufallen, als sie die Ursache erkannte: Schuld trug das Rollo, das sie vor wenigen Tagen hatte anbringen lassen. Die eingeschalteten Scheinwerfer eines Autos leuchteten durch die damit verdeckten Fenster. Warum hatte sie sich auch ausgerechnet für Rot entscheiden müssen?
Es dauerte zwei Minuten, bis ihr Herzschlag auf Normaltempo zurückschaltete. Sie schüttelte mit dem Kopf. Wo war nur ihr gesunder Menschenverstand geblieben? Sie trat an das Sprossenfenster und schob das Rollo nach oben. Mist! War das hell. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um nicht von dem Scheinwerfer geblendet zu werden. Noch etwas benommen riss sie das Fenster auf und ließ die frische Morgenluft hinein. Sofort ging es ihr besser. Beinahe meinte sie, zusehen zu können, wie der Dunst der Nacht nach draußen waberte.
Wie jeden Morgen begrüßte Anna den Mann im Mond. Er winkte ihr aus einem Druck über ihrem Bett zu. Der knollennasige Wicht ruhte, bekleidet mit Schlafmütze und Schlafrock, in einem Halbmond wie in einer Hängematte. Wellen von Wolken schienen den Mond zu wiegen. Anna hatte das Bild auf Anhieb gefallen, und so hatte der Mann im Mond die Aufgabe übernommen, über ihren Schlaf zu wachen. In der letzten Zeit allerdings vernachlässigte er seine Pflichten, sie würde einmal ein ernstes Wort mit ihm sprechen müssen.
Sie hob die Decke auf und breitete sie über das Bett. An Kopf und Fußteil verband ein geschwungener Bogen die äußeren Streben miteinander. Das polierte Messing wirkte beinahe weich, es schimmerte, lud ein darüber zu streichen.
Für gewöhnlich verzichtete Anna darauf das Bett zu machen, richtete lediglich das Kissen und ließ den Rest zusammengeknüllt liegen, wie sie daraus hervor gestiegen war. Zumindest etwas Positives sollte der Schrecken des Morgens also bewirkt haben. Am Abend würde sie unter eine Bettdecke kriechen, die zur Abwechslung nicht nach der letzten Nacht müffelte.
Anna verließ das Schlafzimmer und tappte barfüßig ins Bad. Eine kalte Dusche war jetzt genau das Richtige, um die Wirrnis aus ihrem Kopf zu verjagen.
Nach der Dusche fühlte sie sich besser. Vielleicht würde es ja doch noch ein guter Tag werden.
Mittwoch, 4. August
Anna drosselte das Tempo und fiel in einen unruhigen Schritt, bei dem ihre Arme schwungvoll vor und zurück schlenkerten, wie die einer zu groß geratenen Flickenpuppe.
Im Vorbeigehen begrüßte sie einen Kollegen, ehe sie in den Waschraum abbog. Während sie sich die Hände abschrubbte, überprüfte sie ihr Spiegelbild. Sie schüttelte das Haar. Die goldene Pracht flimmerte in Kaskaden über ihren Rücken und die kräftigen Schultern. Mit den Fingerspitzen zupfte sie an der zarten Haut ihrer Wangen. Ihr Gesicht könnte ruhig etwas mehr Farbe vertragen. Nach den Strapazen der Nacht war sie blass. Trotzdem sah sie viel jünger aus, als sie sich heute Morgen fühlte. Wenn sie sich geschickt zurechtmachte, wirkte Anna keinen Tag älter als 20, tatsächlich hatte sie jedoch vor einigen Monaten ihren 36. Geburtstag gefeiert.
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