Anna zog ihre Kosmetiktasche hervor und packte ihre Schminkutensilien aus. Eine großzügige Portion Rouge verhalf ihr zu neuem Leben. In einer schwungvollen Bewegung umrandete sie ihre Augen mit schwarzem Kajal. Zu schwungvoll, denn im nächsten Augenblick donnerte sie mit dem Ellenbogen gegen die Wand.
„Aua“, fluchte sie. Tränen traten ihr in die Augen. Ohne nachzudenken, wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Danach fiel ihr Blick in den Spiegel. Ein Troll sah ihr entgegen. Dicke Trauerränder von Wimperntusche hatten sich um ihre Augen gebildet. Sie sah aus wie ein Pandabär. Angespannt starrte Anna ihr Spiegelbild an. Sie schüttelte mit dem Kopf. Und dann mit einem Mal brach es aus ihr heraus. Sie lachte. Lachtränen malten Landschaften in ihr Gesicht, zogen Schlieren in den Lachfältchen, die sich nun nicht mehr verbergen ließen. Anna wechselte in die Hocke und grapschte nach der Wand. Sie konnte sich jedoch nicht halten und plumpste zu Boden. Da saß sie eine Weile, die Beine weit von sich gestreckt und lachte schallend.
Schließlich beruhigte sie sich. Sie stemmte sich hoch. Viel Zeit blieb ihr nicht bis zum Beginn der Sitzung. Während sie die notdürftigsten Restaurierungsarbeiten an ihrem Gesicht vornahm, übte sie noch einmal den Anfang ihrer Präsentation.
Im Konferenzraum warteten bereits die Kollegen. Annas Vortrag stand als Tagesordnungspunkt Eins auf der Agenda. Ohne Umschweife legte sie los. Sie sprach mit vollem Körpereinsatz, untermalte die Details mit den Händen und zerschnitt die Luft mit ausholenden Gesten. Die ersten Sätze formulierte Anna akzentuiert, beinahe im Stakkato, die Kompetenz in Person. Die Zuhörer zuckten zusammen, als sie sich vorbeugte und auf den Tisch schlug. Gleich danach schob sie eine lange Atempause ein, stand still, die Arme an den Körper gezogen, den Kopf leicht geneigt. Sie hob die Hand und öffnete den Mund - nur ein wenig, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu schüren. Als sie ihre Lösungsvorschläge entfaltete, hingen die Kollegen an ihren Lippen. Nun schmeichelte sie ihnen mit heller Kinderstimme, um den Beschützerinstinkt in ihnen zu wecken. Sie liebte es mysteriös zu wirken. Je undurchschaubarer sie sich gab, desto mehr fraßen die Kollegen ihr aus der Hand. Anna lächelte in sich hinein. Wie gut die Manipulation auch dieses Mal gelang. „ Gelernt war eben gelernt.“
Ehe sie ihren Vortrag beendete, blickte sie noch einmal jedem Zuhörer in die Augen. Keiner der Anwesenden konnte sich ihrem Blick entziehen, sie versanken in ihren dunklen Honigaugen. Der Chef, der ihr gegenübersaß, starrte Anna an. Sie zwinkerte ihm zu. Dann ließ sie sich mit einem Seufzer in ihren Stuhl fallen und schlug die Beine übereinander.
Eine halbe Stunde später saß Anna wieder in ihrem Büro. Während der Rechner hochfuhr starrte sie müde auf den schwarzen Bildschirm. In den letzten fünf Jahren waren zahllose Projekte über Annas Tisch gegangen. Besonders gern rieb sie das ihrer Mutter, der eiskalten Maria, unter die Nase. Der Gedanke an ihre Mutter ließ Anna schaudern. „Ein Kuriosum, dass ich nach all dem, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe, noch halbwegs normal erscheine“, schoss es ihr durch den Kopf. Den Schein wahren, das konnte sie, das war eine elementare Lehre ihrer Mutter gewesen. Wie so oft dachte Anna, die Schreibweise ‚Leere’ würde womöglich besser zu ihrem Leben passen.
Leere und Einsamkeit, damit kannte sie sich aus. Manchmal, wenn sie es sich gestattete, träumte sie davon, ganz normal zu sein, eine Frau mit einer Bilderbuchfamilie. Doch nach Jahren des Wartens hatte sie begriffen: Es gab ihn nicht, diesen Mr. Right, diesen Einen , der für sie bestimmt war. Das war ein Hirngespinst, verkaufsfördernder Einfallsreichtum für unterbelichtete Hausfrauen, die sich mit banalen Liebesromanen die heile Welt erkauften.
Es ekelte sie an, mit welchen Sonderlingen sie sich immer wieder einließ, die reinste Selbstzerstörung. Sie wagte es kaum, an den Käseverkäufer zurückzudenken, mit diesem Hang die Zehen der Frauen zu lutschen mit denen er sie gerade betrog. Oder an den Drogendealer, der selbst sein bester Kunde gewesen war. Nach dem Zehenlutscher hatte Anna monatelang jeden Spiegel gemieden, stand doch die Demütigung in Großbuchstaben auf ihre Stirn gelasert. Nach dem Drogendealer war sie lediglich pleite gewesen, allerdings auch polizeilich erfasst.
Und trotzdem – und darüber wunderte sie sich selbst am meisten – verlor sie den Glauben nicht ganz. Möglicherweise ruhte ja irgendwo in Gottes Backofen – weit hinten und schon ein wenig angebrannt – doch noch ein für sie Bestimmter. Diese Theorie gefiel ihr, und sie gab ihr den Arbeitstitel ‚Mr. Left’.
In Gedanken versunken, kratzte sie an einer Kruste unter der Armbanduhr. Ein Blutstropfen löste sich, zerplatzte auf dem Schreibtisch und verlief. Annas Blick fiel auf zahlreiche verschorfte Kratzer und frische Wunden an ihren Unterarmen und Händen. Sie seufzte. Warum das noch? Zuerst war da dieser Traum gewesen und nun diese Wunden. Woher stammten sie? Angeflogen konnten sie ja kaum gekommen sein. Außerdem schien es Anna unmöglich, dass sie sich die Verletzungen im Schlaf zufügt hatte.
„Nicht verwunderlich, dass die Panik nun regelmäßig zu Besuch kommt“, dachte sie. Ihre Augen begannen zu brennen. Sie wollte nicht weinen. Bestimmt war es nur Einbildung, schlichte Albträume, die sie mehr quälten, als sie sich eingestehen wollte – und da kratzte sie sich halt nachts die Arme auf. Zugegebenermaßen eine Scheißsituation, doch die würde vorbei gehen – irgendwie. Oder auch nicht. „Stacheldraht! Stacheldraht! Stacheldraht!“, schrieb sie auf ein Blatt Papier. Minutenlang starrte sie die Wörter an, dann entfuhr ihr ein Schrei: „Lasst mich in Ruhe!“ Wenn es nur nutzte. „Bitte!“, flüsterte sie.
Donnerstag, 12. August
Anna rührte in ihrem Tee und beobachtete den aufgelösten Kandis, der durch die Flüssigkeit trieb. „Wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin“, dachte sie. Wahrscheinlich glotzte die Tante am anderen Ende der Strippe auch gerade in eine solche.
„Huh-huh!“ Anna fuchtelte mit den Händen vor den Augen herum. Bestimmt hatte die Kugel Ladehemmungen, warum sonst sollte es so lange dauern, einen Termin zu bekommen. Wenn die Frau nicht bald zurück ans Telefon käme, verließe Anna der Mut.
„Frau Koudras?“ Na endlich. „Wäre Ihnen Mittwoch, der 15. September 2010 um 17.00 Uhr recht?“
„Ganz und gar nicht“, antwortete Anna. „Mir geht es jetzt schlecht und nicht erst in vier Wochen. Meine Hausärztin, Frau Kolbe-Wittmor, hat mich extra an Sie verwiesen. Angeblich arbeiten Ihre beiden Praxen zusammen und Sie behandeln die Patienten, die sie Ihnen schickt, bevorzugt. Hat man mich da etwa falsch informiert?“
„Es tut mir leid, Herr Dr. Chlodwig hat derzeit sehr viel zu tun. Ich schaue, ob wir Sie früher unterkriegen können.“ Weg war sie. Wieder dauerte es einige Minuten. „Am nächsten Montag hat jemand abgesagt. Es ginge jedoch nur um 11.30 Uhr.“
„Dann eben 11.30 Uhr.“ Anna krallte ihre Finger mit aller Kraft in das Mousepad.
„Na wunderbar“, flötete das Spätzchen. „Dann halten wir fest, Montag 16. August 2010 um 11.30 Uhr, hier bei uns.“
„Wo denn sonst?“, knurrte Anna, nachdem sie aufgelegt hatte. „Und von ‚wunderbar’ kann garantiert keine Rede sein.“ Am liebsten hätte sie das Vögelchen zum Frühstück verspeist. Wie konnte man nur so ekelhaft freundlich sein und wozu hatte die Tante jedes Mal die Jahreszahl genannt? Wahrscheinlich musste sie sich glücklich schätzen, dass sie noch in diesem Jahr einen Termin bekommen hatte.
Anna mochte Ärzte nicht. „ Na, wie geht es uns denn heute ?“ Diese Pseudoherzlichkeit blieb ihr suspekt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen es als Berufung empfanden, anderen beizustehen. Niemand handelte uneigennützig.
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