Er konzentrierte sich auf nichts anderes als auf das Gleichmaß seiner Schritte. Für gewöhnlich blendete er auf diese Weise die Umgebung aus. Doch heute gelang es ihm nicht. Von Sekunde zu Sekunde wuchs sein Groll. Der Wald drang ungehindert zu ihm durch, der Geruch nach Erde und dem Schweiß der anderen Läufer, das Rauschen des Windes in den Blättern und das Knacken der Zweiglein, die er zerbrach. Hin und wieder glitten Sonnenstrahlen durch die Baumkronen. Auch das fleckige Licht behagte ihm nicht, es störte seinen Orientierungssinn. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, die unerwünschten Sinneseindrücke auszuschalten. Er fluchte. Nun vermasselte Anna ihm obendrein den Abend.
Ohne inne zu halten, riss er ein Büschel Klatschmohn vom Wegesrand, zerquetschte die zarten Blütenblätter und warf sie achtlos zu Boden. In der letzten Woche hatte es oft geregnet, manches Mal war er allein im Wald gewesen. Doch nun hatte sich das Wetter gebessert und zahlreiche Läufer bevölkerten den Wald.
Ein Stück vor ihm lief eine Frau. Ihr Zopf wippte bei jedem Schritt. Sie wirkte unsportlich und deplatziert. „Eine blutige Anfängerin“, dachte er, während er sich ihr näherte. Als er zum Überholen ansetzte, sah er sie einen Augenblick an. Sie kam ihm vage bekannt vor. Ja, sie ähnelte Anna Koudras. Ob ihm das Gehirn einen Streich spielte? Sicherheitshalber hielt er an der nächsten Ecke an. Er trat hinter einen Busch, um die Frau zu beobachten. Mit schweren Schritten kam sie näher. Ihr Atem ging stoßweise. Wie ein ertrinkender Käfer wedelte sie mit den Armen. Wie konnte man nur so eine schlechte Figur machen? Kopfschüttelnd spähte Michael aus seinem Versteck.
Tatsächlich sah die Läuferin Anna sehr ähnlich. Kein Wunder, dass er sie verwechselt hatte. Die gleichen Gesichtszüge, weich und doch mit einem harten Zug um den Mund, genauso, wie er sie kennengelernt hatte. „Wie eine Zwillingsschwester“, dachte er. Die Frau kam immer näher heran. Dann, mit einem Mal erkannte Michael seinen Irrtum. Von wegen Zwillingsschwester, das war Anna Koudras. Was machte sie denn hier? Er starrte Anna unverwandt an, obwohl sie direkt auf ihn zusteuerte. Erst als sie bis auf wenige Meter an den Busch herangekommen war, realisierte er, was geschah. Jeden Augenblick musste sie ihn entdecken.
Er wirbelte herum. Ein Dorn bohrte sich in sein Bein. Nur mit Mühe gelang es ihm einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Mit zusammengebissenen Zähnen schob Michael sich noch tiefer in das Gebüsch. Unter seinen Füßen brachen Äste und immer mehr Dornen stachen in seine Haut. Scheiße, warum verbarg er sich auch ausgerechnet in einem Dornbusch?
Anna durfte ihn so nicht entdecken, sie könnte auf falsche Gedanken kommen. Im besten Fall nähme sie an, er wäre in Liebe für sie entflammt. Im schlimmsten Fall hielte sie ihn für einen Voyeur. Womöglich zeigte sie ihn bei der Ärztekammer an. Dort kannten sie wenig Verständnis für Zufälle.
Er überwand das letzte, schmerzhafte Stück durch den Busch, rappelte sich frei und rannte los. Im Zickzackmuster kämpfte er sich durch unwegsames Gelände, ein Stück Urwald im Stadtwald. Hier, abseits der befestigten Wege, machten ihm die Auswirkungen des schlechten Wetters zu schaffen. Der Boden war schlammig und je weiter er in das Innere vordrang, desto matschiger schien es zu werden.
Mehrmals rutschte er beinahe aus. Er hörte ein Keckern und schaute auf, um zu sehen, welcher Vogel ihn da so unhöflich auslachte. Als er ihn nicht entdeckte, bückte er sich nach einem Stein und warf ihn in das Geäst eines Baums. Flatternd flog eine Schar Vögel auf. Für einen Moment abgelenkt, achtete Michael nicht auf seine Füße. Prompt trat er ins Leere, und seine verschlammte Sohle fand keinen Halt. Er rutschte weg. Wie in Zeitlupe glitt sein Knöchel nach außen und knirschend dehnte sich seine Sehne. Hilfesuchend griff er nach einem Ast und tatsächlich gelang es ihm ein wenig Halt zu finden. Dennoch sackte er mit dem Knie in den Schlamm. Was für eine Sauerei. Michael stemmte sich hoch. Als er an sich hinab sah, fluchte er. Dunkler Lehm bedeckte seine Wade. Sein Schuh war mit Brackwasser vollgelaufen und schmatzte nun bei jedem Schritt. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Michael endlich ein befestigtes Wegstück erreichte. Sein Fuß schmerzte inzwischen höllisch. Fluchend humpelte er vorwärts. Nach und nach begann der Schlamm zu trocknen und abzubröckeln. Sein Schuh hingegen troff von Feuchtigkeit, bei jedem Schritt hinterließ Michael einen nassen Abdruck auf dem Asphalt.
Ein Geräusch hinter ihm, ließ ihn aufhorchen. Er blickte sich um und entdeckte Anna, die hinter ihm heranschnaufte. Langsam, aber unaufhaltsam holte sie ihn ein. Hinkend beschleunigte Michael seinen Schritt. Schweiß sickerte in sein T-Shirt. Nur wenige Meter vor Anna erreichte er den Parkplatz. In letzter Minute sprang er in seinen Wagen und schloss schwer atmend die Tür hinter sich.
Einige Minuten später fuhr er das Auto vom Parkplatz in Richtung seiner Wohnung. Er kam nicht weit, eine rote Ampel zwang ihn zum Anhalten. Mehrere Fahrzeuge warteten bereits vor ihm. Michael ließ seinen Wagen ausrollen und näherte sich langsam der Schlange. Ein Stück weiter vorn stand ein Alfa Romeo. Den blonden Zopf der Fahrerin erkannte er sofort. Auch das noch. Wie war es Anna gelungen, vor ihm diese Kreuzung zu erreichen? Der Anzeige ihres Blinkers nach wollte sie rechts abbiegen. „Schade, meine Route führt mich geradeaus“, dachte Michael.
Die Ampel schaltete auf Grün. Er tippte das Gaspedal an und sein Auto setzte sich in Bewegung. Der Alfa rollte um die Ecke. Im nächsten Augenblick, ohne nachzudenken, setzte auch Michael den Blinker und bog ab. Seine Kopfhaut kribbelte. Adrenalin schoss ihm in die Glieder. Hoffentlich bemerkte sie ihn nicht. Vorsichtshalber rutscht er ein Stück tiefer in den Sitz.
Nicht weit entfernt endete die Fahrt. Anna parkte den Alfa routiniert ein, stieg aus und verschwand in einem Haus. Michael blieb im Auto sitzen und wartete. Mit der Zeit begann der Dreck zu jucken, und nachdem Michael eine halbe Stunde ergebnislos die Haustür angestarrt hatte, beschloss er den Heimweg anzutreten. Außerdem plagte ihn das Gewissen. Eine solche Indiskretion passte nicht zu seinem Berufsethos. „Aber wie soll ich sonst über sie wachen?“, sagte er sich, ohne sich die Frage zu stellen, warum er überhaupt über sie wachen wollte. Das Schicksal hatte ihm eine Antwort gegeben und wer war er, nicht auf das Schicksal zu hören.
Zu Hause begaben sich die gegensätzlichen Gefühle in seinem Inneren in eine Gruppentherapie. Michael trat stets für die Einhaltung von Regeln und Vorschriften ein. Andererseits: War es denn nicht seine Pflicht, einer Patientin zu helfen? Es nicht zu tun, käme unterlassener Hilfeleistung gleich.
Verheißungsvoller Ruhm, eitle Hilfsbereitschaft gegen Berufsethos, Karriere gegen Vorschriften, Vertrauen gegen Vertrauensbruch: Sein Innerstes tanzte argentinischen Tango. In einem schwülstigen, roten Salon umkreisten sich Zweifel und Ehrgeiz, stürmten Schritt für Schritt aufeinander zu. Der Zweifel rang den Ehrgeiz nieder, doch dieser schleuderte mit verzweifelter Kraft alle Bedenken zu Boden. Theatralisch ruderte er mit Armen und Schultern, umrundete das Parkett, um erneut am Ausgangspunkt anzukommen. Elegant und anmutig reichte er dem Zweifel die Hand und half ihm auf. Die großzügige Geste wirkte einstudiert - sie wies den Gegner in die Schranken - begleitet von einem Lächeln, zugleich herrisch und arrogant. Die Musik verklang, es war entschieden. Bei diesem Tanz führte der Ehrgeiz.
Samstag, 18. September
Erneut schlief Michael schlecht. Die Aufregung hielt ihn wach. Um fünf Uhr, noch bevor der Wecker geklingelt hatte, erhob er sich. Eineinhalb Stunden später stieg er in sein Auto und machte sich auf den Weg zu der Straße, in der Anna wohnte.
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