»Hast du sie noch alle?«, fragte ich wütend.
»Was?«, entgegnete Jasper herausfordernd. »Sind meine Haare, oder? Darf ich mit machen, was ich will.«
»Deine Haare sind mir scheißegal«, sagte ich und war mit einem Schritt bei ihm. Ich pflückte ihm die Zigarette aus dem Mund und warf sie ins Waschbecken. »Waterstone hat sich klar ausgedrückt, was das Rauchen im Haus angeht.«
»Ist ja gut«, sagte Jasper gelassen und hob in kapitulierender Geste die Hände. »Jetzt sag schon, sind da noch Haare? Ist ganz schön schwer, sich den Schädel ohne Spiegelbild zu rasieren.« Erst jetzt bemerkte ich, dass Jaspers Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken fehlte. Das machte Sinn, war es doch im Diesseits unterwegs, seit Jasper sich für mich geopfert hatte. Mein Spiegelbild hingegen war dort, wo es hingehörte. Scheinbar setzte die Physik, die für die Existenz eines solchen verantwortlich war, nur so lange aus, wie der Enerphag lebte, der es gemimt hatte. Ich legte eine Hand an das kühle Glas und begegnete dem Blick meiner dunklen Augen. Es waren Augen, die viel Leid gesehen hatten – das meiste davon hatte ich anderen zugefügt. Sie waren dunkel. Traurig. Mörderisch. Aber es waren meine Augen.
Zum ersten Mal, seit mein Spiegelbild angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten, hatte ich die Gelegenheit, mich ausgiebig selbst zu betrachten. Seit Amrei, die Tochter des Besitzers der Taverne Zum Meeresgrund, mir die Haare geschnitten hatte, waren sie einige Zentimeter länger geworden. Verglichen damit wuchs mein Bart, den ich mir alle drei Tage rasieren musste, wenn ich nicht wie ein Vagabund aussehen wollte, wie Unkraut. Zum ersten Mal musterte ich meine Narben kritisch hinsichtlich ihrer Ästhetik: die Kerbe in meiner Augenbraue, die beiden parallelen Schrammen und der Schnitt in meiner Unterlippe. Sie waren nicht dezent, verunstalteten mein Gesicht aber auch nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Nicht einmal mein angefressenes Ohr. Ich wusste aber auch um die Narben an anderen Stellen meines Körpers, für die wulstig noch gar kein Ausdruck war.
Ich tauchte jäh aus meinem Anblick auf, als mir der Geruch verbrannten Haares in die Nase, und Rauch aus dem Waschbecken stieg. Jaspers Haare hatten Feuer gefangen. Ich fluchte und drehte den Hahn auf. Die Flammen verloschen, und während ich mit den Händen die Rauchschleier vertrieb, übersah ich beinahe die verschwommene Gestalt, die sich im Spiegel der Oberfläche näherte. Ich wich zurück und zog meine Machete. Noch nie war etwas Gutes aus den Spiegeln gekommen, und ich hatte keinen Grund, anzunehmen, dass es jetzt anders wäre.
»Scheiße!«, rief Jasper erschrocken aus, als sich die verschwommene Gestalt von der anderen Seite gegen das Glas warf und ein Netz aus Rissen die Oberfläche überzog. Ich spannte die Muskeln an bereit, zuzustoßen, sobald der Neuankömmling durchbräche. Wieder warf sich die Gestalt gegen das Glas. Dieses Mal brach sie in einem Schauer aus Scherben hindurch, stolperte über die Armaturen des Waschbeckens und schlug auf dem Badezimmerboden auf. Fassungslos blickten Jasper und ich auf die junge Frau hinab, die stöhnend vor Schmerz zwischen den Scherben lag. Ich hätte ihr wohl, ohne zu zögern, die Machete in den Leib gerammt, hätte ein Geigenkasten, den sie umklammerte wie ihren erstgeborenen Sohn, und ein Netz schwarzer Linien, das ihre linke Gesichtshälfte überzog, nicht allen Grund zur Annahme gegeben, dass ich sie kannte. Sie musste seit ihrem Verschwinden mehrere Jahre gealtert sein, doch es bestand kein Zweifel.
»Amrei?«, fragte ich und ließ die Machete sinken.
Gesang. End verstummte und blickte lauschend zum Fenster.
»Wohin geht ein Lied, wenn seine Töne verklingen
mit dem Stoß ins Horn zum letzten Krieg?
Wer lauscht der Seele, wenn sie anfängt zu singen
von den Dingen, die uns Zuris verschwieg?
Zuris, mein Gott, warum hast du uns verlassen …«
»Der schon wieder«, knurrte Baine, erhob sich von seiner Pritsche und trat vor das vergitterte Fenster. »HEY! Verschone uns mit deinem Gesang, Bursche!« Der Arbeiter ließ sich nicht beirren. Baine schnaubte wütend und wandte sich um. Nahm seine Holzschale auf und schlug damit gegen die Gitterstäbe. »HEEEY!« Das verhinderte nicht, dass der Mann die letzte Zeile des Refrains theatralisch langgezogen ausklingen ließ. Wohl aber provozierte es die Insassen der Zellenblöcke 12 und 14, ebenfalls brüllend mit ihren Schalen gegen die Gitterstäbe zu schlagen.
»Diese Idioten«, schimpfte Baine und trat vom Fenster zurück.
Die Tür zum Zellengang wurde geöffnet, und die beiden Gefängniswärter traten ein – dieses Mal in der Rolle der Essensausgeber einen fahrbaren Kessel vor sich.
»Wer hat Lust auf Brei?«, fragte einer von ihnen mit schadenfrohem Lächeln. Die Insassen erhoben sich und stellten ihre Schüsseln vor die Zellentüren. Die Essensausgeber füllten zuerst Georges Schüssel. Anschließend spuckte der, der Storm erschossen hatte, hinein.
George verzog das Gesicht.
»Was war das?«, frage der Essensausgeber mit einer Miene, als hätte George ihm die Schüssel aus der Hand geschlagen. Er wandte sich an seinen Partner. »Der hat gerade dreingeblickt, als wäre ihm der Brei nicht gut genug.«
»Der Spaßvogel meinte gestern schon, er würde lieber Steak essen.«
Der Essensausgeber zog die Pistole. »Ist das so? Willst du lieber Steak, Arschloch?«
George sah hilfesuchend zu Bill, der seinem Blick auswich. »Brei ist gut, denke ich«, murmelte er.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte der Essensausgeber aufgebracht und richtete seine Pistole auf den Insassen. »Du willst lieber Brei statt Steak essen?« Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer George starr vor Schreck auf den Lauf der Pistole starrte.
»Ich … ich … ich …«, stammelte er schließlich. Der empörte Ausdruck auf dem Gesicht des Essensausgebers wich urplötzlich einem Lächeln, so trügerisch wie die Ruhe im Auge eines Sturms.
»Ich mach nur Spaß, Mann«, sagte er in einem Tonfall, als hätte es auf der Hand gelegen, und steckte die Pistole zurück ins Holster. »Sag nicht, du hast dich eingeschissen.« Er lachte, während er die Kelle zur Hand nahm und Bills Schale füllte, die ihm sein Partner hinhielt. George brachte ein nervöses Lächeln hervor.
Jäh ließ der Essensausgeber die Kelle zurück in den Kessel fallen. Er zog die Pistole, richtete sie auf George und feuerte zwei Mal. Der Insasse schrie auf. Das erste Projektil war in die Wand eingeschlagen. Das zweite hatte ihn am Oberarm getroffen. Mit schmerzerfüllter Miene sank er an der Rückwand seiner Zelle herab und presste die Hand auf die Wunde.
»Hat hier noch jemand ein Problem mit dem Essen?«, fragte der Wärter in die erschrockene Stille hinein, nur unterbrochen von Georges Wimmern. »Nein? Gut.« Nacheinander füllten er und sein Partner die Schüsseln der Insassen, bis sie schließlich bei Ends Zelle angelangten.
»Wen haben wir denn da?«, fragte der Essensausgeber, der auf George geschossen hatte, in lauerndem Tonfall. »Wenn das nicht Godric fucking End ist. Willst du auch Brei?« Die Kelle verharrte über der Schüssel. End begegnete dem Blick des Essensausgebers und schwieg. »Antworte.« End sagte nichts. Das lauernde Lächeln auf den Lippen des Wärters schmolz. Sein Unterkiefer zitterte. Er knallte die Kelle auf den Boden, sodass Brei durch den Zellengang spritzte, zog abermals die Pistole und richtete sie auf End.
»Denkst du, ich werde dich nicht abknallen, weil du Godric fucking End bist?«, brauste er auf. »Sag mir, ob du Brei willst. Jetzt!« End erhob sich und trat auf die Zellentür zu, den Blick auf das Gesicht des Essensausgebers gerichtet, als suche er etwas darin. Der Sänger hielt den Atem an. Wieder einmal wusste er nicht, ob End deshalb so gelassen wirkte, weil er wahrhaftig nichts zu befürchten hatte, oder weil es ihm egal war, ob er lebte oder starb.
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