Meine Mutter hatte keine Zeit für sich, sie war immer nur für die Kinder da und hat ihr Leben hinten angestellt«, versuchte sie zu erklären. Manchmal konnte Lydia nicht anders, sie verteidigte jene, die ihr Schmerzen zufügten, auch wenn es unbewusst war.
»Wie kommst du darauf?«, wollte Tom wissen.
»Nun, ich habe nie ein schlechtes Wort über sie gehört. Nie hat sich jemand in meiner Familie beklagt und wenn, dann nicht in meiner Gegenwart. Ich glaube oder hoffe, dass sie mich vermisst, aber nicht zurückkommen kann. Vielleicht hat mein Vater sogar noch Kontakt zu ihr, wer weiß«, plapperte sie und schaute Tom mit ihren großen Augen an, als wollte sie sagen: ›Ich hoffe, dass es einfach so ist, wie ich es mir denke.‹
»Sicherlich. Keine Mutter kann ihr Kind vergessen. Sie wird bestimmt ihre Gründe gehabt haben«, sagte Franziska in einem Ton, der mütterlich klang. Lydia zuckte mit den Schultern.
Sie dachte oft darüber nach, hatte aber noch nie so ausführlich davon geredet. Zu Hause vermied sie das Thema. Sie sah zur Uhr an der Wand, es war fast vier.
»Musst du los?«, hakte Frau Hafe nach.
»Nein, Entschuldigung. Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, ständig auf die Uhr blicken zu müssen. Ich muss erst zum Abendbrot zu Hause sein.«
»Dann ist es ja gut.«
Sie nickte.
»Wollen wir wieder hoch?«, fragte Tom.
»Okay. Danke für Kaffee und Kuchen!« Toms Mutter lächelte und beobachtete sie so lange, bis sie die Tür von Toms Zimmer hörte.
Sie atmete tief durch, nahm das Telefon in die Hand und telefonierte so lange, bis sie erneut die Tür hörte.
»Deine Geschichte ist irgendwie traurig!«, bemerkte er, als sie die Stufen hoch gingen.
»Warum traurig?«
»Ich weiß auch nicht«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, »du wächst ohne Mutter auf, dein Vater arrangiert sein Leben um dich herum und deine Brüder müssen, obwohl sie selbst noch jung sind, auf dich aufpassen.«
»Ja, aber ich glaube, sie haben es gerne gemacht.
Ich hab nie angenommen eine Last für sie zu sein. Zumindest hab ich nie etwas gemerkt!«
»So meinte ich das nicht!« Er setzte sich auf die Couch in seinem Zimmer, sie sich in einen Sessel.
»Wie dann?«, wollte sie wissen und war gespannt, was er zu sagen hatte. Tom musste erst einmal nach den richtigen Worten suchen und runzelte dabei die Stirn, zuckte mit den Schultern und meinte, er wäre selbst überfordert, wenn er in einer ähnlichen Situation wäre. Natürlich stimmte das auch, wie Lydia wusste. Die Jungs brauchten damals auch ihre Freiräume. Sie wusste aber auch, dass sie pflegeleicht war und nie viel verlangt hatte. Sie war selig, wenn sie einfach im Gras saß und ihren Brüdern zu sehen konnte. Sie malte, las oder schlief.
Ihre Stimme zitterte etwas, während sie dies alles erzählte.
Sie war sich sicher, dass es niemand bereuen würde.
Manchmal überkam sie aber eine Welle der Unsicherheit. Ihre Träume signalisierten ihr dann, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich deplatziert.
»Steve bedeutet dir sehr viel, oder?«
»Er ist für mich da. Die andren sind ihre eigenen Wege gegangen, aber Steve besucht mich immer noch, sooft es geht und wir telefonieren jeden Tag.«
»Das ist schön. Ich rede wenig mit meiner Schwester. Jenny geht lieber auf Partys. Sie ist eben eine richtige Studentin.«
»Sag mal«, meinte Lydia nach einer kurzen Pause, »ist es nicht eigenartig, dass wir uns so gut unterhalten können und scheinbar auch verstehen?«
»Du meinst, weil wir uns erst seit heute Morgen kennen?«
»Jupp!«, bestätigte Lydia.
»‹Eigenartig‹ würde ich es nicht nennen, aber ja, schon seltsam«, sagte Tom.
»‹Seltsam‹ ist nichts anderes wie ›eigenartig‹!«, lachte sie.
»Gut, ja. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide Jane Austen Romane lesen und eine Laktoseintoleranz haben!«
»Das wussten wir aber heute Morgen noch nicht, Tom, und da haben wir uns auch schon unterhalten!«
»Vielleicht liegt es ja trotzdem an der Denkweise. Wenn man Austen liebt und viel gelesen hat, dann denkt oder redet man auch fast in dieser Sprache. Automatisch schwimmt man auf einer Wellenlänge.«
Sie machte große Augen. Flirtete er mit ihr?
»Wir schwimmen also auf einer Wellenlänge?«
Beide erröteten.
»Ich denke schon.« Er lächelte sie schüchtern an.
»Ich sag ja, es ist eigenartig«, meinte sie nachdenklich.
»Wäre es aber nicht, wenn es in einem Roman stünde!«, bemerkte der dunkelblonde Junge.
»Nein, das nicht«, sagte sie seufzend und ignorierte den Wunsch, ihre Hand durch seine kurzen vollen Haare gleiten zu lassen. Sie glänzten und würden sicherlich herrlich duften. Sie errötete bei dem Gedanken, was Tom lächeln ließ.
»Was ist denn schon dabei? Ich bin jedenfalls froh, gleich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich gut verstehe. Hätte ich nicht geglaubt. Grad hergezogen, meine Freunde in Köln gelassen, und schon lerne ich jemanden kennen, mit dem ich mich unterhalten kann.«
»Das stimmt. Und wenn du magst«, sie sah auf die Uhr, »kannst du mit zum Abendbrot zu uns kommen und dann lernst du noch Sam kennen.«
»Das ist nett, aber ich denke mal, du hast genug zu tun mit der Vorbereitung für morgen.«
Stimmt!
Lydia musste ja Probearbeiten. Sie freute sich total darauf.
»Da hast du recht. Ich will im Internet lesen, was es so alles für Bücher gibt. Damit ich schon mal auf Kundenfragen oder auf Fragen von Madlen vorbereitet bin.
Ich kenne zwar einige Autoren und Verlage, aber nicht die komplette Bestsellerliste. Das will ich noch ändern. Ich bin immer gerne vorbereitet. Schön, dass du das erwähnt hast. Dir geht es wohl auch so?«
»Ja! Vorbereitung ist immer alles. Ich mache es nicht anders. Ich werde heute auch Bewerbungen schreiben. Noch ist Zeit, haben ja erst April.«
»Weißt du schon als was beziehungsweise wo? Ich kann mir gut vorstellen, dich in einem Buchladen zu sehen oder in einem Musikladen, oder das du auf eine Fachoberschule gehst, Tom.«
»Fachoberschule? Welche Richtung?«
»Ich hab gelesen, nicht weit von hier, gibt es eine Schule, bei der man mit Sprachen zu tun hat: Deutsch, Englisch,
Französisch und natürlich auch mit Literatur. Wenn ich keine Lehrstelle finde, würde ich mich da bewerben.«
»Dann werde ich mir das Mal ansehen.«
»Tue das und ich mach mich los.«
»Es ist doch noch nicht sechs«, bemerkte Tom.
»Ja, aber Sam hasst es, den Tisch zu decken«, erwiderte sie lachend.
Tom brachte sie zur Tür. Lydia verabschiedete sich auch von der Mutter, die das Telefon hinter ihrem Rücken versteckte.
Sie brauchte nur wenige Sekunden, dann war sie schon zu Hause.
»Na, Schwesterchen, wie war die Prüfung?«, erkundigte sich Sam.
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