1 ...8 9 10 12 13 14 ...33 Auf dem Weg zu ihrem Zimmer aß sie es. Sie hatte Hunger und wollte fit sein.
Steve ging ihr hinterher, sein Vater trank die erste Tasse Kaffee immer gerne in Ruhe.
»Was ist denn?« Er hielt sie sanft am Arm fest.
»Nichts, wirklich.« Langsam ging sie in ihr Zimmer und hoffte, er würde nicht weiter nachfragen, denn sie wollte nicht weinen. Auf keinen Fall! Nicht jetzt! Nicht heute!
»Hey, Schwesterchen, du kannst es mir erzählen!«, bohrte er weiter nach.
»Es ist nur ...« Sie stockte und sah in seine braunen Augen. »Als ich fast die ganze Zeit mit Tom gestern zusammen war, haben wir uns viel unterhalten. Und da kam es natürlich vor, dass gefragt wurde, wie meine Eltern so sind.
»Oh.«
Sie setzten sich beide auf ihr Bett und er nahm vorsichtig ihre Hand in seine. Es war eine gewohnte Geste und Berührung und sie schloss für einen Moment die Augen. Lydia hatte noch Zeit, es war erst zehn vor acht.
»Aber«, sie lächelte tapfer, »da ich ja eh nichts weiß, hab ich nichts gesagt. Nur halt, dass Papa sich arrangieren musste mit der Arbeit, als ich noch ein Baby war. Und ihr euch immer um mich gekümmert habt, als ich dann etwas größer wurde.
Ich meinte auch, dass es sicherlich schwierig war, nach drei Jungs, ein Mädchen großzuziehen.«
»Na ja, du warst ja wie ein Junge«, sagte er leicht neckisch.
»Bis du mir dann erzählt hast, ich sollte nicht mehr so oft Fußball mitspielen«, erinnerte sie ihn.
»Ich hab dir immerhin die ›Bravo‹ immer hingelegt.«
»Ich weiß. Das fand Tom übrigens total amüsant. Er wollte wissen, ob ich denn alles gelernt habe, was es darüber zu lernen gibt.«
Steve legte seinen Kopf schief und pikste seine kleine Schwester. »Und haste?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Aber ich war ja auch mit dir zusammen in der Drogerie, als du Binden und so was gebraucht hast«, flüsterte er tröstend.
»Was dir aber schon peinlich war!«
»Klaro, ich bin ja auch ein Mann!«
Da schubste sie ihn wieder und er kitzelte sie durch.
»Aufhören! Aufhören!«, japste sie.
Steve haute sich demonstrativ mit seiner linken Faust auf die Brust - als sei er Tarzan.
»Na gut, ich geh wieder runter. Du musst dich ja noch schick machen. Aber ich glaube, das ist hoffnungslos.«
»Hey!«, sie gab ihm einen sanften Tritt.
»Autsch!«
Er stand auf, sah aus dem Fenster und musste stutzen.
»Ist er das?«
»Mmh?« Sie richtete sich auf und er winkte. »Jupp«, bestätigte sie, öffnete das Fenster und rief: »Guten Morgen! Das ist Steve!«
»Morgen und Hi!«, begrüßte er sie. Die Sonne blendete ihn und Tom zwinkerte.
»Wusstest du, dass er hier reinschauen kann?«, wollte Steve etwas besorgt wissen.
»Ja, wir haben es gestern Abend festgestellt!«
»So, so! Dann will ich euch zwei Turteltauben mal alleine lassen! Bis heute Nachmittag, Tom!«
Natürlich sagte er Turteltauben extra laut.
»Ach Kleines, zieh dir den mal lieber an!«
Auf einem Stuhl lagen ihre Klamotten und oben drauf ihr BH, den er ihr entgegen schmiss.
»Du bist so blöd, natürlich zieh ich das an, woher sollte ich denn wissen, dass ich mit dir solange unten sitze und hier oben noch!« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Tom beobachtete und grinste. »Bis dann!«
Nachdem Steve das Zimmer verlassen hatte, wollte Tom wissen, wann sie losmusste. Sie sagte es ihm und fügte hinzu: »Ich muss mich jetzt anziehen. Da ich das ja nicht im Zimmer machen kann, geh ich mal ins Bad!«
»Ach du, von mir aus kannst du dich gerne umziehen. Ich schaue auch nicht mit beiden Augen hin. Indianer-Ehrenwort!« Er symbolisierte das Zeichen und grinste. Sie musste darüber so lachen, das sie sich zurückhalten musste, sonst würde Sam doch noch wach werden.
»Also, bis später dann.« Sie schloss wieder das Fenster und schnappte sich ihre Sachen.
*
Steve machte sich schon Sorgen um Lydia, seit jeher im Grunde.
Nicht wegen Tom, sondern weil sie manchmal wirklich eine Mutter brauchte. Er wartete etwas, ehe er zögernd an die Badezimmertür klopfte.
»Ich bin’s, bist du schon angezogen?«
Lydia öffnete. Sie war gerade dabei, sich die Zähne zu putzen.
»Was hattest du den Nachbarn über deine/ unsere Mutter gesagt?«
Sie sah ihn verdutzt an, spülte ihren Mund aus und meinte:
»Das sie scheinbar überfordert war. Sie hatte ja schon drei Jungs und dann noch ein Mädchen, das war vielleicht zu viel.«
»Glaubst du das?« Sie zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, weißt du?! Der Gedanke, sie würde uns vermissen, ist angenehmer als alles Negative. Sam war ja auch erst drei, als sie fortging. Für ihn ist es ja noch schwerer. Ich hab früh gemerkt, dass keiner von euch darüber reden will und hab es dabei belassen. Natürlich wollte ich alles wissen, aber Papa sah dann immer geknickt aus und ich wollte ihn nicht verletzen oder euch. Sowieso, was er alles aufbrachte, um alles unter einen Hut zu bringen, mit zwei sehr kleinen Kindern und euch, die schon etwas größer waren, finde ich bewundernswert«, gab sie zu und sagte: »Tom fragte mich, ob ihr Jungs mich nicht als Belastung gesehen habt.« Mit ihren großen Augen blickte sie Steve nun an und hielt den Atem an, unsicher, was sie denken sollte.
»Du und eine Belastung? Ich hab dich und Sam einfach immer geschnappt und bin mit euch zum Fußballplatz gegangen.
Da wart ihr ja schon selig und du konntest sehen, wie dein Lieblingsbruder«, dabei zeigte er auf sich selbst, »ein Tor nach dem anderen schoss.«
»Davon träumst aber auch nur du.«
Um für etwas Farbe im Gesicht zu sorgen, benutzte sie eine getönte Tagescreme, die zu ihrem Teint passte, nahm etwas Puder, um den Glanz wegzubekommen, benutzte Wimperntusche und Lipgloss vervollständigte alles.
Ein letzter Blick im Spiegel zeigte ihr, dass sie mit ihren 15 Jahren gut genug aussah, um sich so vor die Tür zu wagen.
Als sie sich zurechtmachte, bemerkte sie, wie Steve sie beobachtete. Sie lächelte ihn an und er zuckte leicht zusammen.
Manchmal war es einfach zu deutlich: Dieser Schritt, den dieses Mädchen zur Frau gerade vollbrachte. Für Stephen war es immer wieder ein Schock.
*
Halb neun verließ sie das Haus. Sie war nervös, freute sich aber total. Als sie aus der Tür ging, stand Tom schon da.
»Guten Morgen.« Sie lächelte. Er nahm ihre Hand in seine.
Verlegen schaute sie ihn an. Als sie außer Sicht der Häuser waren, blieb er stehen.
Er drehte sie zu sich. Sie schauten einander tief in die Augen und küssten sich, es war ein zärtlicher, aber zaghafter Kuss.
Dann küssten sie sich noch einmal. Dieser war etwas intensiver, vorsichtig tasteten sie sich mit ihrer Zunge vor.
Verliebt sahen sie einander an. Dann wünschte er ihr Glück und drehte sich um.
Er sah ihren Vater, der aber sofort wieder ins Haus ging. Ob er ihnen hinterhergegangen war, wusste Tom nicht.
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