Zerrissen
Vom Kummer zerfressen
Janine Zachariae
Jegliche Handlungen sind frei erfunden.
In dieser Geschichte geht es um häusliche Gewalt, Essstörung und Verlust.
Prolog
1. Am Seidenenfaden
2. Die Suche nach einem Wunder
3. »Bitte nicht!«
4. Ein kleines Zeichen
5. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
6. Stillstand
7. Neuanfang mit Hindernissen
8. Das Schicksal schlägt erneut zu
9. Neue Hoffnungen
10. Abschiednehmen
11. Ein neuer Tag, ein neuer Anfang
Zum Buch
Spotify Playlist (Stand 2018)
Vorwort
Nicht alles, was im Leben geschieht, hat einen Sinn. Nicht alles, was wir machen, muss etwas Großartiges werden.
Doch sind es manchmal nur die kleinen Dinge, die wirklich zählen.
Die Hand, die dich hält, wenn du traurig bist.
Das Lächeln, was dir Trost spenden soll.
Der Blick, der dir sagen will: »ich verstehe dich.«
Leider sind diese Dinge manchmal sehr selten zu finden, sie verstecken sich hinter der Angst, der Unsicherheit.
Nicht immer wird gelächelt, weil man glücklich ist, sondern damit niemand den wahren Schmerz entdeckt. Niemand den Schein durchbricht.
Niemand die wahren Gefühle erkennt.
Manch eine Veränderung schleicht sich nach und nach an, bis sie einfach dazu gehört.
Manch eine Last zeichnet sich nur zaghaft ab. Wer würde schon ahnen, was ein junges Mädchen oder ein kleiner Junge auf dem Herzen hat?
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Alles hängt an einem Faden, alles kann zerreißen.
Die Vergangenheit hinterlässt ein Loch, die Gegenwart den Schmerz, die Zukunft die Erkenntnis.
Die Liebe lässt einen alles Vergessen, doch auch unsere größten Ängste zum Vorschein kommen.
Die Angst, einem geliebten Menschen nie die Wahrheit sagen zu können.
Die Angst, zu spät zu sein.
Die Angst, seine Gefühle zuzulassen.
Manchmal erkennen wir erst, was wir haben, wenn es zu spät ist. Wenn es für immer verschwindet und nie mehr auftaucht. Wenn der einzige Kuss auch der Letzte ist.
»Die ganze Welt ist eine Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt jeder manche Rollen.«
William Shakespeare
»Wie es euch gefällt«
Kate und Nick
Mitten in der Nacht hörte sie es. Zunächst drang es nur dumpf zu ihr durch, doch dann erkannte sie. Schnell schlug sie ihre Decke zurück und rannte barfuß ins Bad.
Sie entdeckte ihren Sohn, der mit dem Kopf über der Toilette hing. Der immer wieder würgte und kaum mehr etwas in sich haben müsste.
»Liebling«, flüsterte sie.
»Mama ...«, stieß er zwischendurch aus. »Hilf mir«, krächzte er.
Sie kniete sich zu ihm und fühlte seine Stirn, er glühte regelrecht, aber trotzdem schien er zu zittern.
Sie nahm einen Lappen und ließ kaltes Wasser den Stoff durchweichen. Sie tupfte seine Stirn und wusch ihm die Reste vom Mund. Er fiel ihr um den Hals und weinte. Der Schmerz ließ seine Welt nebelig erscheinen. Der Schmerz in seinem Magen.
»Pscht, es ist alles gut. Ich bin da. Ich bin bei dir.«
Sie blickten einander in die Augen, dann stand sie langsam wieder auf und half auch ihrem Sohn. »Ich weiß, der Geschmack ist widerlich, aber das vergeht. Setz dich und putz dir erst einmal die Zähne«, sagte sie und versuchte möglichst gelassen zu wirken. ›Nur eine Magenverstimmung‹, wollte sie hinzufügen, aber das brachte sie nicht übers Herz. »Ich hol dir etwas zum Anziehen.« Sie lächelte und verließ das Zimmer.
Nun konnte er sie nicht mehr sehen, ihre Reaktion nicht mitkriegen. Den Lappen noch in der Hand, nahm sie den Hörer ab und wählte eine Nummer.
Sie musste sich einige Sekunden fangen, den blutigen Lappen verstecken und die Tränen wegwischen.
Als sie wieder bei ihrem Sohn war, reichte sie ihm neue Klamotten. Er war noch sehr wackelig und sie half ihm beim Umziehen. Etwas, was sie seit vielleicht 13 Jahren nicht mehr machen musste. Ihr Sohn war fast 19, erwachsen. Aber er würde immer ihr kleiner Schatz bleiben. Solange sie lebte, war sie seine Mutter und vielleicht auch darüber hinaus. Sie hoffte immer, dass niemals etwas ihnen in die Quere kommen würde. Sie träumte davon, mit ihren Enkelkindern im Garten zu toben, während ihr erwachsener Sohn mit seiner Frau dabei zusah. Das war ihr größter Wunsch.
Nun aber musste sie ihren Sohn ins Krankenhaus bringen.
»Wie fühlst du dich?«
Müde zuckte er mit den Schultern.
»Vielleicht hast du eine Lebensmittelvergiftung? Komm, lass uns das im Krankenhaus abklären.«
Er hatte keine Kraft zu widersprechen und wollte den Schmerz einfach nur abschalten.
Es war ein Uhr nachts. Wie lange er sich übergeben musste, wusste er nicht.
Schmerzen spürte er seit einigen Tagen, immer wieder. Aber er machte sich nichts daraus.
Er war Sportler und die Erwartungen und der Druck waren manchmal etwas zu viel für ihn. Zumal er sich auch in der Schule reinhängen musste, damit er auch weiterhin im Team bleiben durfte.
Möglicherweise wollte ihm sein Körper zeigen, dass er eine Pause benötigt. Das er nun endlich einmal etwas kürzer treten müsste.
Doch dann fing die Übelkeit an und er konnte kaum noch etwas essen.
Aber auch das beunruhigte ihn nicht sonderlich.
Man wird nicht mit 18 Jahren krank.
Er lernte an diesem Abend bis spät in die Nacht. Immer wieder musste er aufstoßen und ärgerte sich dabei. Wichtige Arbeiten standen bevor und er durfte nicht scheitern oder krank werden. Er wollte seine Mutter nicht enttäuschen. Sie hatte es auch so schon schwer genug. Alleinerziehend, mit einem Job, der sie sehr beanspruchte.
Er konnte tagsüber nicht lernen, da seine beste Freundin ihn brauchte. Also musste er die Nacht zum Tag machen.
Zuerst kam die Übelkeit, dann der Schwindel. Er musste den Stift zur Seite legen, erkannte kaum mehr ein Wort. Alles war verschwommen. Er legte seinen Kopf auf sein Physik Buch und hoffte, dass es dadurch besser werden würde. Doch wurde es nur schlimmer. Schnell rannte er ins Badezimmer. Seine Mutter wollte er nicht wecken. Sie müsste in wenigen Stunden aufstehen und ihre morgendliche Schicht antreten.
Das sie überhaupt fuhren, bekam er erst mit, als der Wagen bereits stand. Sie parkten nicht weit vom Krankenhaus. Eine Krankenschwester wartete bereits mit einem Rollstuhl am Eingang.
Erleichtert stiegen sie aus und sie freute sich, dass ihr Anruf ernst genommen wurde.
»Hallo, Sie sind Familie Joy, oder?«, wurden sie begrüßt.
»Hallo, ja, danke, dass es so gut geklappt hat.«
»Und du bist Nick?« Die Krankenschwester entdeckte Blut im Mundwinkel des Jungen und blickte seine Mutter besorgt an.
Nick ließ sich in den Rollstuhl nieder und wurde hineingeschoben.
Stunden später versuchte Frau Joy ihre Fassung nicht zu verlieren. Sie versuchte, stark zu sein. Aber ihr Herz wurde immer schwerer. Die Diagnose, die nur zaghaft in den Raum geworfen wurde, hing wie eine dunkle Wolke über ihr. Jedes Wort, was folgte, fühlte sich wie Hagelkörner auf der Haut an. Noch aber bestand Hoffnung, noch war es nicht zu spät.
Nick glaubte, dass sich der Nebel, in dem er sich seit Stunden bewegte, immer mehr zuzog. Dass er zu verschlingen drohte.
Er starrte vor sich her, verstand kaum ein Wort. Doch dann erschrak er:
»Ich kann nicht weg, nicht jetzt!«
»Nick, bitte. Es muss sein.«
Sie wurden alleine gelassen, damit sie in Ruhe darüber reden konnten.
»Ich kann Cassie nicht verlassen! Sie braucht mich!«
»Cassandra? Dein Leben steht auf dem Spiel und du denkst an Cassandra?«
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