»Du verstehst das nicht!«, sagte er.
»Was soll ich nicht verstehen? Du liebst sie, sie dich aber nicht. Sie nutzt dich doch nur aus!«
Er schüttelte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Die er zuließ. Es spielte keine Rolle. Er wollte weinen, den Schmerz davon spülen. Die Vergangenheit fortwischen.
»Nick?«
Er holte tief Luft.
»Cassandra hat mir das Leben gerettet, dabei aber hängt ihrs am Seidenenfaden.«
Blass und verwirrt setzte sich Kate zu ihrem Sohn.
Er musste es ihr erzählen. Es ging nicht anders. Sie musste die Wahrheit erfahren.
Gerade als er ausholen wollte, trat der Arzt zu ihnen und reichte einige Unterlagen.
»Wir haben einen Platz für dich erhalten, Nicholas. Du … Nick, es ist wirklich wichtig. Wir glauben, wir können den Tumor bekämpfen. Du hast gute Chancen! Aber dafür musst du in eine Spezial-Klinik.«
Er blickte in die Gesichter um sich herum. Sah den Schmerz in den Augen dieser fremden Leute. Menschen, die tagtäglich mit Krankheit und Tod leben müssen. Doch der Schmerz in ihren Augen war echt. Er war 18.
Niemand wird mit 18 Jahren krank.
Er schaute zu seiner Mutter und ihr Schmerz traf ihn noch mehr. Er musste kämpfen. Für sie. Für Cassie. Wenn er jetzt nichts unternehmen würde, wäre es womöglich zu spät. Er musste für Cassandra da sein, wenn sie ihn brauchte. Die Erinnerung an sie, wie er sie vor wenigen Stunden sah, raubte ihm die Luft. Sie war so zugerichtet.
Also willigte er ein und sie fuhren zurück, um eine Tasche zu packen. Als sie sich wieder ins Auto setzten und eine Weile schon unterwegs waren, bat seine Mutter, ihm alles zu erzählen.
Also begann er:
»Es ist schon etwas her und …«, er hielt inne und holte tief Luft: » … wir wollten uns direkt nach dem Training treffen. Sie war, wie immer, überpünktlich und ich mal wieder Letzter, da ich unbedingt noch eine neue Wurftechnik versuchen wollte, die mir aber nicht gelang. Also machte ich solange weiter, bis ich endlich traf. Als ich den Basketball wegräumte, war nur noch der Aushilfstrainer da. Ein Mann, der gelegentlich vor einem großen Spiel assistierte.
Er lobte mich für den Wurf und freute sich mit mir. Da ich mich mit Cassie verabredet hatte und wir etwas unternehmen wollten, konnte ich natürlich nicht stinken. Also ging ich unter die Dusche ...« Nick hielt kurz inne und atmete tief durch. »Wie gesagt, es war sonst niemand da … Ich stand mit dem Gesicht zur Wand und als ich mich umdrehte war plötzlich dieser Mann da. Er stand da, die Hose geöffnet und beobachtete mich. Ich wollte wegrennen, irgendwas machen. Aber er war schneller. Er drückte mich an die Wand, mit einer Hand hielt er mich fest, die andere …
›Hey, du Arschloch!‹, brüllte plötzlich jemand und bevor der Typ etwas machen konnte, traf ihn ein heißer Wasserstrahl. Cassandra war so geistesgegenwärtig. Sie hat mir das Leben gerettet.
›Ich habe die Polizei schon gerufen!‹, sagte sie streng und hielt ihr Handy in die Höhe. ›Du lässt also besser meinen Freund los oder ich werde noch etwas anderes von dir verbrennen!‹, schrie sie nun.
Der Typ rannte so schnell es ging davon.
Cassandra drehte sich um und reichte mir ein Handtuch. Es war das Mutigste, was jemand hätte machen können. Sie war so mutig. Obwohl damals schon ihr Leben in die Brüche ging. Später sagte sie, sie habe draußen gewartet und sei immer wieder hin und her marschiert. Sie hat mich dann schließlich gesehen, wie ich zu den Duschen ging und kurz darauf aber den Mann erspäht. Er blickte sich immer wieder um, wirkte aber entschlossen. Als auch er in der Dusche verschwand, musste sie sichergehen, dass alles in Ordnung ist«, versuchte er zu erzählen und verschluckte hin und wieder ein Wort. Die Erinnerung ließ ihn erzittern. Übelkeit stieg in ihm hoch. Alles drehte sich, doch blieb er stark.
»Nick … warum hast du nie etwas erzählt?« Kate wurde ganz blass. Sie fasste sich an die Stirn und ihr wurde richtig schlecht.
»Ich konnte nicht. Ich wollte dir keinen Kummer bereiten, ...« Er blickte sie traurig an.
»Was ist mit dem Mann geschehen, wer war es?«
»Er ist verschwunden. Kam nie mehr zurück. Natürlich hatte Cassie nicht die Polizei so schnell verständigen können, aber sie ging später zum Direktor und hat es erzählt.
Mama, Cassandra darf nicht wissen, dass ich krank bin.«
»Ich erzähle ihr, dass du bei deinem Vater bist. Und dort erst einmal eine Weile bleibst. Ihr wollt euch wieder nähern, du und dein Papa. Wieder Zeit miteinander verbringen, neu kennenlernen. Versprochen.«
»Wir wollten uns heute wieder Treffen.«
»Ich simse ihr. Ich nehme dein Handy und schreibe ihr immer mal, so wie du es tust.«
»Aber ...«
»Ich werde dir so ein billig Handy besorgen. Es wird alles gut, ich verspreche es dir.«
Nick hatte seine Zweifel, aber er schluckte alles Weitere runter. Die nächsten Wochen oder Monate würden schwer genug werden.
Nachdem sie alles geklärt hatten, holte ihm seine Mutter ein neues Handy, damit er sie anrufen konnte, wenn er etwas auf dem Herzen hatte.
Cassandra schrieb sie, wie versprochen, immer wieder eine Nachricht. Sie musste alles auch mit der Schule klären und nahm ihren Sohn einen Monat vor den Sommerferien aus dem Unterricht. Er war klug und würde alles nachholen können.
Die Zukunft würde nicht einfach werden.
Kate Joy wachte über Cassie. Sie wusste nun, was sie für ihren Sohn getan hatte. Es hätte ihn zerstört. Ihn vernichtet. Niemand kann so etwas einfach wegstecken.
Doch nicht einmal sie konnte Cassandra vor dem Schmerz beschützen, der ihr Herz einnahm.
Nick war über ein halbes Jahr weg. Er sehnte sich nach ihr.
Seine Freundin vermisste ihn so sehr, dass es ihr Herz zerriss.
Doch musste sie weitermachen. Sie wusste nicht, warum er so lange weg war.
Wenn sie doch nur die Wahrheit erfahren hätte …
Cassie
»Erde an Cassie!«
Cassandra war ein verträumtes Mädchen. Sie war ständig mit ihren Gedanken woanders. Irgendwo, nur nicht im Hier und Jetzt.
Sie träumte immer von einer anderen Welt, einem anderen Leben. So konnte sie entfliehen. Aber leider funktionierte es nicht dauerhaft und schon gar nicht, wenn ihr bester Freund bei ihr war.
Nick wusste zwar, wieso sie manchmal so abwesend war, doch konnte er es nicht immer verstehen. Diese Melancholie, die sie stets umgab, wirkte auch auf ihn niederschlagend. Dabei wollte er für sie da sein, sie unterstützen. Sie vor sich selbst retten, wenn es sein musste. Doch lange könnte er es nicht mehr mitmachen.
»Tut mir leid Nick, was wolltest du wissen?«
»Ob wir heute Abend etwas unternehmen können? Kino oder so?«
»Nee, heute geht’s nicht.«
»Wieso?«, fragte er überrascht.
»Hätte ich dich etwa um Erlaubnis bitten sollen?«, antwortete sie etwas gereizter als beabsichtigt.
»Oh, natürlich nicht. Es ist nur so, ...«, begann er nun zu stammeln, »wir hatten uns doch für heute Abend verabredet. Das haben wir vor einigen Wochen ausgemacht.«
»Haben wir das?«
»Cassie, wir kennen uns auf den Tag genau fünf Jahre. Weißt du nicht mehr? Du warst 13 und ich 14, wir hassten uns früher. Ich weiß sogar noch, wie du mich mal fast verprügelt hättest. Zum Glück wurden wir dann doch noch Freunde.«
»Ach ja.« Nein, eigentlich erinnerte sie sich nicht an das Versprechen. Sie spähte unauffällig in ihren Kalender, doch da stand auch nichts drin. Aber sie wusste, dass ihr Jahrestag bevorstand. Schließlich unternahmen sie an diesem Tag immer etwas Besonderes. Letztes Jahr gingen sie in ein sündhaft teures Restaurant. Beide hatten ihr Taschengeld lange dafür gespart und zogen sich extra schön an.
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