»Schwesterchen, ich würde mich nie deinetwegen schämen!«
»Du nicht, aber die andren sicherlich«, sagte sie traurig.
»Nein, das glaube ich nicht. Sie wollen nur dein Bestes. Wir wollen alle nur dein Bestes«, sprach er und flüsterte. »Ich will dich doch nur beschützen.«
Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam ihr Vater rein.
»Lydia, hier sind die Formulare fürs Gymnasium.«
Sie sah es sich an.
»Was?« Sie musste noch mal drauf sehen. »Nein, oh nein. Nein, nein, nein«, schrie sie.
Tom blickte hoch, als er sie schreien hörte, beobachtete aber weiterhin unauffällig die Lage.
Sam kam hinzu.
»Lydia, du schreist wie ein Kind.«
»Na und, Sam. Dann bin ich halt noch eins, so wie ihr mich behandelt. Was ist nur los mit euch?« Alle schauten zu Boden, keiner sagte was.
»Wenn das so ist, geht einfach.« Sie öffnete die Tür. Sam und Sascha gingen. Tränen rannen ihr die Wange runter.
»Lydia, bitte, du musst verstehen, dass es wirklich das Beste ist.«
»Steve ... geh … bitte«, ihre Stimme versagte. Sie fühlte ein Brennen in ihrer Brust, ihrem Herzen. Als würde ein Funken langsam ein Loch in sie hineinbrennen.
Die Tür schloss sich hinter Steve und er lehnte sich dagegen, atmete tief durch und hasste dieses Gefühl. Er hat es schon immer gehasst, nicht ehrlich sein zu können. In diesem Augenblick aber verfluchte er es, wie noch nie zu vor. Er musste stark bleiben, obwohl er sie am liebsten getröstet hätte.
Als sie alleine war, tauchte auch Tom wieder auf.
»Was ist denn los? Du hast so geschrien!«
Sie versuchte zu lächeln, aber es ging nicht.
»Ich muss weg!«
»Wann kommst du wieder?«, hakte er nach.
»Nein, ich muss weg!«, sagte sie traurig und senkte ihren Blick. »Ich soll ins Internat und dort mein Abi machen!«
»Ich kapier nicht«, sagte Thomas zögernd.
»Ich auch nicht. Ich hab es hier schwarz auf weiß!« Sie hielt einen Zettel in der Hand, schaute erneut drauf und schmiss es achtlos zu Boden. Sie raufte sich ihre blonden Haare und wusste einfach nicht, wieso plötzlich alles aus dem Ruder lief. Es war doch alles gut.
»Ja, aber warum?«
»Hast du nicht hingehört?«
»Ja, aber ich hab nichts raus hören können«, gab er zu und fuhr sich mit seiner Hand durch seine blonden Haare. Sie waren kurz und nun etwas verwuschelt.
»Siehst du! Ich auch nicht«, bestätigte Lydia.
»Und du musst wirklich schon im neuen Schuljahr weg?«
Das Mädchen runzelte die Stirn und war sich sicher, ein Datum erkannt zu haben. Sie beugte sich runter, hob das Blatt auf und wurde noch blasser als zu vor.
»Lydia?«
Sie brach weinend zusammen. Konnte nichts mehr sagen. Tom rannte aus dem Zimmer. Sie hörte, wie es an der Tür klingelte und ging die Treppen runter.
»Lydia ist nicht da!«, hörte sie ihren Vater barsch reden.
»Doch, sie ist da, ich weiß es ganz genau.«
Steve eilte herbei.
»Vater, ich kläre das.«
Sascha war selbst fix und fertig. Er ging in die Küche, zu Sam zurück. Sie telefonierten gerade mit Michael.
»Steve, was ist bei euch los? «
»Lydia geht’s gut. Sie ist ab Montag nicht mehr hier«, erklärte er geknickt.
»Ab Montag?« Er sah ihn fragend an und schüttelte verwirrt den Kopf. Montag? Das war schon sehr bald.
»Ja, es ist ein Platz frei geworden, kurzfristig sozusagen. Sie kann dann ins Internat und dort den Sommer über wohnen.«
»Die Ferien verbringt sie nicht hier?«, wollte Tom wissen. Er runzelte die Stirn, starrte Steve dabei aber an.
Steve schmerzte es zutiefst. Er hasse sich selbst dafür. Hasste es, dass es soweit hat kommen müssen.
»Nein. Sie wird dort Praktika machen und sich komplett auf die Schule einstellen.«
»Was ist mit den Prüfungen?«
»Dort ist es freiwillig, ob jemand seinen Realschulabschluss machen will, obwohl er sich auf das Abitur quasi vorbereitet, oder nicht. Es liegt also an ihr, ob sie die Mündlichen noch machen will«, stammelte Stephan. Ihm ging so viel durch den Kopf, dass er kaum einen klaren Gedanken oder gar Satz zu Stande bringen konnte.
»Wo muss sie hin?«
»Nach ... Bayern.« Steve machte eine kurze Pause, blickte kurz nach hinten und trat einen Schritt hinaus, sodass er die Tür etwas hinter sich schließen konnte.
»Geh wieder in dein Zimmer, und versuche auf Lydia ein Auge zu werfen. Rede mit ihr und versuch sie zu beruhigen. Aber komme nicht noch mal her und verliebe dich nicht in sie!«, flüsterte er. Verwirrt sah Tom ihn an. »Ich weiß, sie mag dich sehr und du sie scheinbar auch.«
Da Tom wusste, dass Stephen nichts mehr hinzufügen würde, fragte er:
»Liegt es meiner Familie?« Steve schwieg, Tom aber glaubte, ein leichtes Nicken vernommen zu haben. »Ihr kennt uns doch nicht!«, flüsterte er.
Steve war bereits im Begriff hinein zu gehen, als er noch einmal innehielt, Tom anschaute und kaum hörbar: »Wenn du wüsstest« sagte. Mit diesem Satz ließ er ihn stehen. Tom war verstört. Was wollte Lydias Bruder nur damit andeuten? Er ging zurück ins Haus.
»Was ist denn los, Tom?«, wollte seine Mutter wissen. Er erzählte es ihr und bemerkte einen eigenartigen Gesichtsausdruck bei ihr.
»Weißt du, was er meinte?«, fragte er sie anschließend. Ja, sie wusste es, sagte ihm aber nichts davon.
Dabei wäre es sein Recht gewesen, es zu erfahren!
Er ging in sein Zimmer. Seine Mutter atmete erleichtert aus.
Sie hatte schon Bedenken, dass sich die Kinder so gut verstanden.
»Lydia!«, rief er zu ihr.
»Was war unten los? Warum durftest du nicht hoch? Warum ist Steve mit dir raus?«
»Dein Bruder hat was Seltsames gesagt! Ich fragte, wann du weggehst und er meinte, schon am Montag fängst du in der neuen Schule an. Das bedeutet, du musst morgen los.«
Lydia weinte immer noch und nickte zu dem, was er sagte.
»Bayern!«, stieß er erstaunt hervor.
»Hat er dir gesagt, wo genau?« Er schüttelte den Kopf.
»Bayern, das wäre ja noch schön.«Sie machte eine Pause.
»Eigentlich ist es schon fast in Österreich!« Das fünfzehnjährige Mädchen fasste sich an die Stirn. Sie fühlte sich kühl an, obwohl es warm war. Alles war zu viel für sie.
»Was?!« Er war geschockt.
»Psst! Versuch nicht zu laut schreien.«
»Steve hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«
»Wirklich?«, fragte Lydia verwundert.
»Ja. Ich hab ihn auch gefragt, ob es an meiner Familie liegt.«
»Das ist unmöglich, ihr wohnt doch erst seit Donnerstag hier.«
»Na, das dachte ich mir ja auch, aber ich musste dennoch Nachfragen.« Er versuchte, sich selbst wieder zu fassen, und berichtete ihr von dem Gespräch und allem, was Steve zu ihm gesagt hatte. »Ich stand da wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann hab ich meiner Mutter alles erzählt und sie hat auch so komisch reagiert!«
»Tom, irgendwas stimmt hier nicht. Ich hab euch vorher noch nie gesehen und hab nie meine Familie über jemanden mit dem Nachnamen Hafe reden hören. Aber weißt du, manchmal hab ich so das Gefühl, sie verstummen, wenn ich ins Zimmer komme und überlegen sich schnell ein Thema. Mein Vater bekommt alle paar Monate ein Päckchen oder einen wichtigen Brief, den er behutsam weglegt.«
Tom dachte nach. Hatte er schon mal etwas vernommen oder irgendwas gehört?
»Du, Lydia ... dein Bruder meinte, ich darf mich nicht in dich verlieben. Wie meint er das?« Sie schaute ihn verblüfft mit ihren grünen Augen an und wusste nicht, was sie antworten sollte. Es war einfach alles sehr verwirrend, wie sollte sie nur damit zurechtkommen? Das war doch absurd. Warum sollte er sich nicht in die verlieben? Wieso dürften sie nicht zusammen sein? Um den Kopf wieder etwas klarer zu bekommen, beschlossen sie, einfach weiter in dem Buch zu lesen, welches sie am Abend zuvor schon begonnen hatten. Obwohl sie kaum gedanklich folgen konnten, worum es in diesem Buch eigentlich ging, tat es gut. Es war etwas Solides. Der Inhalt stand schon fest und würde sich nicht mehr ändern. Es war etwas, worauf sie sich verlassen konnten und so verbrachten sie einfach die nächsten Stunden damit und irgendwann folgten sie auch der Geschichte aufmerksam und lachten, wenn es passend war, oder wirkten überrascht, wenn es die Situation vorschrieb.
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