Langsam begann es allerdings zu dämmern, doch sie wollten noch nicht aufhören. Nicht dieser Blase entkommen, die sie sich gerade aufgebaut hatten. Sie könnte jeden Moment platzten, wie eine Seifenblase im Wind.
Irgendwann vernahm sie ein stumpfes Klopfen und registrierte, wie die Tür geöffnet wurde. Steve meinte, es sei Zeit fürs Abendessen, doch Lydia hatte keinen Hunger. Sie wollte doch nur hier sitzen und mit ihrem Freund Zeit verbringen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann müssten sie sich von einander trennen. Sie fragte sich, ob sie eine Zukunft gehabt hätten oder ob er einfach nur ein guter Freund geworden wäre ...
»Du musst was essen!«, meinte Steve und blickte zwischen Lydia und Tom hin und her. Kurz schien es Lydia, als würde ihm etwas in den Sinn kommen. Ein neuer Gedanke oder eine Erkenntnis, doch dann schaute er wieder nur sie an.
»Ja, ja. Irgendwann. Geh!«, schrie sie und Stephen schloss leise die Tür hinter sich, unsicher, was als Nächstes passieren würde.
*
»Sie will nicht herunterkommen«, sagte Steve zu den anderen, als er die Küche betrat.
»Arme kleine«, meinte Sam betrübt und schüttelte den Kopf und doch ... Es wurde Zeit für die Wahrheit, das war auch ihm bewusst.
Sascha zuckte mit den Schultern und sprach: »Sie sollte sich lieber bald daran gewöhnen. Stephen, wenn sie bis heute Abend nicht runterkommt, wirst du noch einmal mit ihr reden und du hilfst ihr beim Packen. Auf dich wird sie hören.«
»Ich will sie aber nicht Verletzten.«
»Möchtest du, dass ich es mache?«
*
Lydia wollte gerade wieder ansetzen zu lesen, als Tom plötzlich aufschrie.
»Nein! Das darf nicht wahr sein! Nein, oh nein, nein, nein, nein.« Verwirrt über diesen Ausbruch, schaute sie ihn lange an.
Er raufte sich die Haare, ging im Zimmer hin und her.
»Lydia, wann hast du Geburtstag?«, wollte er wissen.
»Am 7. April.«
»Jahr?«
»1993.«
»Ach. Du. Scheiße!«, sagte er betont langsam. »Nein, nein, nein. Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen? Ich bin so bescheuert«, stammelte Thomas.
Fünf Minuten später stürmte Lydia Schaf in die Küche:
»Ich bin ein Zwilling?« Alle mussten schlucken und tief Luft holen. Michael war in der Zwischenzeit auch angekommen.
»Lydia, woher?«, fragte ihr Vater.
»Tom!!«, meinte Steve erschrocken.
»Dieser Bengel«, schrie Sascha.
»Also stimmt es? Tom und ich sind Zwillinge? Aber wie? Wie ist das möglich? Wolltet ihr keinen weiteren Jungen mehr? Wolltet ihr meinen Bruder nicht mehr hier haben?«, fragte sie hysterisch und fluchte dabei.
Sie waren alle geschockt, so kannten sie das Mädchen gar nicht und ihr Vater meinte nur:
»Lydia beruhige dich!«
Als es an der Tür klingelte, nutzte Michael die Gelegenheit, um kurz durchzuatmen. Familie Hafe ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und Michael murmelte nur »Küche« und schlurfte ohne Elan hinter ihnen her.
»Die Kinder sind klüger, als wir dachten, Sascha.«
»Was geht hier vor? Tom?«, wollte Lydia wissen und musste ein paar Mal blinzeln, da Tränen ihr die Sicht verschleierten.
»Ich bin zu meinen Eltern hin, um zu wissen, was Sache ist, und plötzlich sind sie aufgestanden und na ja, hier sind wir.« Er sah selbst mitgenommen aus, hatte rote, gequollene Augen. Lydia atmete tief ein und aus. Als sie merkte, dass ihre Stimme nicht mehr so wackelte, sagte sie:
»Tom und ich haben ein Recht auf die Wahrheit! Wenn ihr uns nichts sagen wollt, seid ihr Feiglinge! Alle, wie ihr da steht!«
»Was willst du wissen?«, wollte Herr Hafe wissen.
»Gehen wir ins Wohnzimmer, da riecht es nicht so nach Essen und wir haben mehr Platz«, schlug Herr Schaf vor.
Alle, bis auf Tom und Lydia, setzten sich aufs Sofa und in die Sessel. Sie sah zu Tom. Er wirkte sehr blass und niedergeschlagen.
»Wir werden euch jetzt Fragen stellen, die uns nach und nach einfallen und ihr werdet sie offen und ehrlich beantworten! Aber wehe einer lacht, weil ich mich vielleicht nicht ordentlich ausdrücke.« Alle nickten. »Tom und ich sind Zwillinge?«
»Ja!«, bestätigten sie etwas zögernd. Lydia nahm ihren neuen Bruder an die Hand, um ihm Mut zu machen. Sie drückte diese sanft und er lächelte sie kurz an, ehe sie weiter fragte: »Seit wann wisst ihr das?« Sie richtete die Frage an die drei Brüder. Steve ergriff das Wort:
»Michael und ich haben es eigentlich gleich gewusst. Ich hab es nicht sofort verstanden, aber Michael wusste genau, was los war. Sam haben wir es erst vor einigen Jahren erzählt.«
»Ihr habt mich die ganze Zeit über angelogen?«, stieß sie empört und verletzt aus.
Es war, als würde sich ein Loch unter ihr auftun und sie verschlingen. Ihr ganzes Leben war eine Lüge?
Sie sah Steve in die Augen und ließ nicht zu, dass er sich abwandte. Nein, sie musste wissen, was in ihm vorging. Dabei vertraute sie ihrem Bruder alles an. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Plötzlich fühlte sie sich verraten. Eine Stimme in ihrem Kopf sprach leise: ›Du hast es doch immer geahnt.‹Ahnte sie es wirklich? Tief im Inneren? Aber wer würde schon auf solche Gedanken kommen? Ja, sie war irgendwie schon immer anders als ihre Geschwister, aber auf eine so absurde Idee zu kommen ... Das übertraf ihr Vorstellungsvermögen.
»Es war eine Lüge, die in deinem Interesse war. In eurem Interesse.«
Tom funkelte alle böse an und fragte nun, wer adoptiert wurde.
»Wie meinst du das, mein Schatz?«, hakte Franziska nach. Lydia zitterte. Tom merkte das und nun hielt er ihre Hand fester.
»Na, ganz einfach: Wer brachte uns zur Welt? Wer wurde weggegeben, wer blieb?«
Überall wurde es still, keiner rührte sich. Dann sagte Jochen Hafe: »Ihr seid beide adoptiert.«
Den Teenagern wurde schwindlig. Steve bemerkte es und ging in die Küche, um beiden ein Glas Wasser zu holen.
»Danke«, murmelten sie.
»Natürlich! Ihr seid ja alle dunkelhaarig und keiner hat die gleiche Augenfarbe. Ihr habt auch eine andere Kinnpartie, die Nase ...«, bemerkte Tom aufgebracht.
»Ja, so ist es bei meinen auch«, bestätigte Lydia. »Ich verstehe das alles nicht. Das passt nicht zusammen.« Lydia versuchte, das Puzzle zu vervollständigen. Eine andere Haarfarbe machte noch lange nicht den Unterschied, aber auf einmal kam sie sich einfach nur lächerlich vor.
»Was denn?« Sie lächelte Steve an, sah dann aber wieder zu den Eltern.
»Also: Ihr habt uns beide adoptiert. Gut. Wer ist dann aber die Mutter von Michael, Steve und Sam und warum ging sie?«
»Der Mutter, von deinen Brüdern, ging es nicht mehr gut.«
Die Jungs sahen sich an, als wäre es auch für sie etwas Neues.
»Drei Mal im Jahr schickt sie mir ein Päckchen für die Jungs. Darin sind Kleinigkeiten und Geld. Eure Mutter will keinen Kontakt mehr zu euch. Sie hat euch lieb, aber sie konnte einfach nicht mehr.«
»Was hat sie?«, wollte sie wissen.
»Sie ging, weil sie sich neu verliebte. Sie hat wieder geheiratet, ihr Mann ist reich. Sie ist noch immer verheiratet. Hat eine neue Familie gegründet.« Das war zwar ein Schlag für alle, aber deutete nicht auf eine Krankheit hin. Im Gegenteil. »Lydia, du bist mit keinem von uns verwandt und Tom, du mit keinem aus deiner Familie«, fügte Sascha zu seiner Erklärung hinzu. Noch immer waren alle Kinder verwirrt.
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