»Tut mir leid. Das ist mir peinlich.«
Sie spuckte die Pasta aus und legte die Bürste in eine Tasche.
»Nichts passiert.«
»Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Hilfe beim zusammen packen brauchst und was du essen möchtest«, stammelte er.
»Wenn du magst, klar.« Sie suchten nun Lydias Kosmetikzeug zusammen und gingen gemeinsam nach unten.
»Ach Stevie, du bist ja immer noch knallrot.« Sie boxte ihn und sagte: »Hey, wo nichts wächst, kann man auch nichts weggucken, denke dran!«
Da musste er lachen, doch wusste er natürlich, dass das nicht der Wahrheit entsprach. So etwas machte man nicht und da gab es auch nichts schönzureden oder zu diskutieren.
»Ja, das stimmt allerdings«, sagte er lachend. Sie schubste ihn und nun mussten sie gemeinsam lachen. Trotzdem fragte sich Lydia, ob es wohl jemals wieder so wie früher sein wird? Ob sie jemals wieder unbeschwert sein können.
Nach dem Frühstück packte er ihre Taschen in den Kofferraum.
»Hast du genug Geld?«, wollte er wissen, als sie am Auto standen.
»Oh verdammt! Da war ja noch was, was ich erledigen wollte«, meinte sie und schnipste mit den Fingern.
Steve nickte, zog sein Portmonee heraus und reichte ihr ein paar Scheine. Damit müsste sie die erste Zeit überstehen können.
»Danke. Das bekommst du aber bald zurück.« Sie fühlte sich so merkwürdig. Noch bevor sie es unterdrücken konnte, kullerte eine Träne ihre Wange hinunter.
Er ging etwas in die Knie und sah sie von unten an:
»Sei nicht albern, das ist das Mindeste.« Und wischte die Träne so sanft weg, dass sie die Luft anhalten musste.
»Danke.«
Sam, Michael und Sascha kamen nach unten. Doch sie sahen nur noch die Rücklichter vom Auto. Auch als Tom wach wurde, wusste er, dass er sie verpasst hatte.
Er blickte zu ihr rüber. Ein Zettel klebte an der Scheibe:
»Vergiss mich nicht, Brüderchen.«
*
»Es ist das Beste für uns alle«, sprach Sascha und nahm sich eine Tasse Kaffee. Die Jungs sahen sich an und verzogen sich ins Wohnzimmer. Sam war irgendwie erleichtert. Er liebte Lydia, wie er seine Brüder liebte, aber es war nie einfach. Er wuchs schließlich auch ohne Mutter auf, doch darauf achtete niemand. Es ging stets um Lydia. Allerdings musste er sich auch eingestehen: Seine Schwester war immer für ihn da gewesen und sie kümmerte sich um den Haushalt, sorgte dafür, dass alles ordentlich war.
Ja, er würde sie vermissen. Möglicherweise sogar mehr, als er es sich jetzt eingestand.
Michael hingegen wollte einfach nur, dass sie ihm verzeihen würde. Es war für alle das Beste gewesen, das sie fortging. Sie musste selbst darauf kommen und das tat sie. Sie wollte so gerne die Ausbildung beginnen, sie wollte ihre Gefühle zulassen. Doch alles war nun in Scherben. Es zerbrach, ihr Glück.
*
»Danke, Steve«, sprach sie, als sie den Bahnhof erreichten. Es war das Erste, was sie sagte, seitdem sie im Auto saßen.
»Gerne. Warte mal!« Er stieg mit ihr aus und drückte sie ganz fest zum Abschied. »Ich habe noch etwas für dich«, meinte er etwas zögernd. Er reichte ihr einen Brief, der noch etwas anderes enthielt, was sie fühlen konnte. »Erst öffnen, wenn der Zug schon mindestens 15 Minuten lang unterwegs ist.«
»Mach ich«, versprach sie weinend und zögernd.
»Deinen Fahrplan hast du und du weißt, wann du umsteigen musst?«
»Ja. Schickt mir meine restlichen Sachen bei Gelegenheit zu.«
»Machen wir! Beeile dich.« Tränen brannten in seinen Augen, doch noch konnte er sie nicht ganz zulassen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und rannte, mit Rucksack, Koffer und Tasche, zu ihrem Gleis. Das Ticket kaufte sie online.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie wusste, dass Steve noch nicht weg war. Dann sah sie ihn ein letztes Mal. Er wirkte irgendwie verloren und sie beobachtete, wie er sich mit dem Handrücke über seine Augen wischte. Würde sie ihn je wiedersehen? Sie schaute auf die Uhr. Etwa acht Stunden fahrt lag vor ihr, davon brauchte sie nur dreimal umsteigen.
Stephen blieb solange, bis die Bahn nicht mehr zu sehen war, dann stieg er in seinen Wagen und schlug mit der Hand gegen das Lenkrad. »Verdammt, verdammt, verdammt!«, schrie er verzweifelt. Sie war doch seine beste Freundin gewesen. »Verzeih mir, Lydia, bitte.«
Das Mädchen stöpselte sich ihre Kopfhörer ins Ohr und lauschte, über ihren MP3 Player, der Musik zu.
Nach fünfzehn Minuten öffnete sie den Brief:
*
»Meine liebe Lydia,
es ist gerade kurz nach Mitternacht. Ich denke die ganze Zeit nur an dich und überlege, warum es so kommen musste. Es bricht mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie deines brach. Ich habe es förmlich gespürt, als du verwirrt in die Küche gerannt kamst.
Ich kann es gut nachvollziehen. Für dich brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Ich wollte nicht, dass du je so verletzt wirst. Hatte versucht dich zu schützen. Michael trifft keine Schuld, dass Toms Familie herzog. Du solltest nicht mehr so einsam sein. Er wollte, dass du endlich mal jemanden hast, mit dem du befreundet sein kannst.
Jemand, der dich versteht. Mit dem du über deine musikalischen und literarischen Vorlieben diskutieren könntest, denn er wusste von Tomas Eltern, was gerne mochte und klang einfach alles ganz genau nach dir.
Jemand, der dir sehr ähnlich ist.
Du warst ja immer mit uns Jungs zusammen und hast dich einfach der Situation angepasst.
Es war ein guter Gedanke von Michael, dass er wollte,
dass du deinen leiblichen Bruder bei dir hast. Sam studiert bald.
Keiner hätte geglaubt, dass ihr euch so gut versteht.
Mach dir aber keine Vorwürfe. Du bist noch so jung und verliebt zu sein gehört einfach dazu. Doch ich weiß, dass du - geschockt von alledem - nichts mehr davon wissen willst.
Glaub mir, wenn ich sage, dass Sammy und ich keine Ahnung hatten, wer er wirklich ist. Das alles haben wir auch erst ... gestern erfahren.
Vielleicht werdet ihr ja eines Tages so gute Freunde, wie wir es sind.
Du bist meine beste Freundin und ich hoffe, wir werden weiter Kontakt haben. Wenn ich daran denke, ohne dich sein zu müssen, dann wäre alles trist und trostlos. Wenn wir uns aber schreiben und trotzdem Freunde bleiben, wäre ich glücklich. Solltest du es allerdings nicht können und du nichts mehr mit uns zu tun haben willst, versteh ich das.
Aber schreib mir wenigstens, dass du gut angekommen bist, oder ruf mich an.
Ich wünsche dir alles Gute dieser Welt. Vielleicht kannst du mir eines Tages verzeihen und du empfindest keine Wut mehr.
Wenn ich dich heute zum Bahnhof bringen muss - und ich bin mir sicher, dass du mich das fragen wirst - werde ich dich vielleicht zum letzten Mal sehen. Das alles geht mir sehr nahe.
Selbst jetzt frisst es mich fast auf. Ich möchte, dass du deine liebevolle Art behältst, das du nicht voller Kummer durchs Leben gehst. Denn so gefällst du mir nicht - dir steht kein trauriges Gesicht.
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