»Warum wurden wir getrennt und wie kommt es, dass wir so weit weg von einander aufgewachsen sind?«
»Franziska und ich waren die Paten von euch. Shannon und James, eure Eltern, wollten, dass ihr in gute Hände kommt, sollte ihnen etwas passieren. Wir wuchsen im Grunde alle zusammen auf, gingen auf die gleiche Schule und auf dieselbe Uni.«
»Shannon und James«, flüsterte Tom leise.
»Ihr wart erst wenige Wochen alt, als sie bei einem Autounfall starben. In ihrem Testament war vermerkt, wer wen bekommt. Sie hinterließen euch eine Menge Geld, so dass eure Ausbildung abgesichert ist«, beendete Sascha seinen Satz. Und wieder an die Brüder gerichtet: »Eure Mutter war noch da. Daher war es kein Problem.
Doch Lydia war keine zwei Monate bei uns, als sich meine Frau veränderte. Nina suchte bei mir Rat. Sie war verzweifelt, wollte mich nicht alleine lassen, war aber depressiv. Also ließ ich sie gehen. Sie brauchte Abstand. Ich nahm an, dass der Verlust ihrer besten Freunde sie so mitgenommen hatte.«
Das war zu viel für alle. Nachdem jeder sich wieder etwas gefasst hatte, wollte Steve wissen, warum Familie Hafe überhaupt in ihr Nachbarhaus gezogen sind, wenn sie es doch geheim halten wollten. Das leuchtete nicht ein, denn sie hätten doch ahnen können, was es auslösen würde.
»Wir dachten, es wäre gut, wenn sie sich langsam kennen lernen. Die Zeit war eigentlich reif dafür. Wir haben schon lange nach Arbeit hier Ausschau gehalten. Sascha und Michael fanden es auch eine gute Idee«, erklärte Herr Hafe.
»Michael, du wusstest davon? Du wusstest, wer sie sind?«
Er nickte und meinte: »Versteht mich nicht falsch. Aber ich dachte, es wäre gut für alle, wenn es langsam raus kommt. Aber dass es sich so entwickelt, konnte keiner ahnen.«
»Wie entwickeln?« Lydia war komplett fertig.
»Ihr wart gerade dabei, euch in einander zu verlieben, habt euch geküsst«, sprach der Ältere behutsam.
Lydia, die noch immer die Hand von Tom hielt, ließ sie augenblicklich los.
»Mir wird schlecht«, murmelte sie, hielt sich eine Hand vor ihren Mund und lief ins Bad. Tom folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Lydia erbrach sich, kaum dass die den Toilettendeckel hochgeklappt hatte.
»Lydia, rede mit mir!« Er klang verzweifelt und als er sein Spiegelbild erblickte, erkannte er sich selbst nicht darin. Zerzauste Haare, verwirrter und verängstigter Blick, glasige Augen.
»Wir haben uns geküsst! Zweimal! Einmal mit Zunge! Oh mein Gott. Das gibt es nicht.«
»Dein Vater muss uns beobachtet haben! Nachdem du in den Laden gegangen bist, hab ich ihn gesehen.«
Sie fasste sich an ihre Stirn, die eiskalt war und ihr wurde erneut schummrig und schlecht. Sie musste würgen, aber es kam nur noch Gale mit hoch, was in ihrer Speiseröhre brannte.
»Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie.
Tom musste sich irgendwo festhalten und schüttelte immer wieder den Kopf. »Oh Gott. Ich darf gar nicht daran denken, was noch passiert wäre.« Sie wusste, was er meinte, doch konnte sie es nicht in Worte fassen.
»Tom, sag so was nicht. Du darfst nicht mal daran denken.« Er schämte sich, boxte mit der Faust gegen die Fliesen im Bad. Er haute so stark drauf, dass er sie kaputt schlug und sich schnitt.
»Ach herrje. Warte.« Sie holte eine Creme, Verband und verarztete ihn.
»Danke, Schwesterchen.« Sie lächelten beide. »Es tut mir leid.«
»Was denn, Tom?«, fragte sie irritiert und schaute ihn wieder an.
»Das ich dich geküsst habe!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wir haben uns geküsst.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Es sollte nicht sein. Wir haben zu gut zusammen gepasst, verstanden uns gleich auf Anhieb.«
Er nahm sie in den Arm. So blieben sie noch eine Weile stehen und gaben sich einfach nur selbst Halt. Sie spülte ihren Mund mit Mundwasser aus, damit sie diesen ekelhaften Geschmack los wurde.
»Wir sollten wieder nach unten gehen«, schlug sie schließlich vor und vermied es, in den Spiegel zu schauen, obwohl er genau vor ihr war. Sie wollte nicht wissen, wie sie aussah. Es war ihr egal. Alles schien plötzlich von einem Nebel, um sie herum verschlungen zu werden, und hinterließ nichts weiter als ein Gefühl der Leere.
»Hast du dich schon beruhigt?«
Tapfer lächelte sie ihn an und öffnete die Tür.
Steve stand nervös an der Treppe.
Er wusste nicht, ob er ins Bad gehen sollte. Also wartete er. Er wollte sie doch nur beschützen. Sie vor all den Schmerzen bewahren, die sie nun erlitt. Die Wahrheit brannte sich seit vielen Jahren in sein Inneres. Er konnte nichts sagen. Deshalb rackerte er hart und wollte nicht mehr in ihrer Nähe sein.
Er erkundigte sich nach Toms Hand, dann umarmte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Kumpelhaft sollte er wirken. Schließlich ging er etwas in die Knie, um Lydia direkt in die Augen zu schauen. Er versuchte zu lächeln und nahm sie einfach in die Arme. Sie hörte seinen Herzschlag, schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Wenigstens den kannte sie noch.
»Das ist echt Horror!«, sagte sie leise zu Steve.
Er zog sie sanft an sich und meinte: »Alles wird wieder gut.« Sie blickte auf und hoffte, er würde recht behalten.
»Geht es euch gut?« Im Wohnzimmer warteten alle gespannt auf sie und schienen etwas in Deckung zu gehen.
»Ja. Wir haben über alles geredet«, meinte Lydia Träge.
»Konntet ihr eure Gefühle klären?«, wollte Sam wissen, der mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster stand und sie mitleidig betrachtete. Nachdem die Wahrheit vor wenigen Minuten ans Licht gekommen war, konnte er endlich wieder durchatmen.
»Da gab es nichts zu klären. Tom ist mein Bruder, fertig.«
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
»Ganz schön viel passiert heute. Bis zum Mittag war mein Leben wunderschön. Jetzt ist es einfach nur noch Chaos. In meinem Kopf schwirrt es und da Tom mir so unglaublich ähnlich ist, wird es ihm nicht anders gehen. Selbst Sam und Steve sind verwirrt. Ob Michael alles wusste, glaub ich nicht.
Jedenfalls sah er auch sehr geschockt aus, als es um eure Mutter ging. Es ist komisch. Plötzlich sind wir Zwillinge und im Grunde Waisen. So sollte unser Geburtstag, den wir in wenigen Tagen haben, nicht aussehen. Der Sechzehnte sollte was Besonderes sein. Um aber nicht noch mehr Schmerz zu verbreiten und Trostlosigkeit in euren Augen sehen zu müssen«, sie blickte sich um und blieb bei Steve hängen, »werde ich morgen ins Internat gehen.
Ich werde mein Abitur machen, um später zu studieren.
Vielleicht werde ich Verlegerin oder Journalistin.« Sie lächelte Steve an. »Ich bin froh, dass Shannon und James uns zu euch gebracht haben. Dass wir getrennt wurden, beschert es uns nun eine so große Familie, wie sie toller kaum sein könnte.«
Tom stimmte dem zu, war aber traurig über ihre Entscheidung.
»Ich möchte nichts mehr davon hören. Die Entscheidung wegzugehen, ist die einzig Richtige. Ihr hattet es von vornherein geplant. Steve ist sicherlich hergekommen, weil ihr alle wusstet, dass so was passiert und Michael kam, um sein Gewissen zu erleichtern. Ihr werdet mir fehlen. Ich hoffe, wir können trotzdem Kontakt halten?
Читать дальше