Und ich hoffe, ihr verbietet Tom und mir nicht, dass wir uns kennen lernen. Er ist mein Bruder. Und, wie es aussieht, mein einziger Verwandter«, sie beendete ihren Monolog und ging nach oben. Wortlos und perplex lief Tom nach Hause, seine Eltern entschuldigten sich und folgten ihrem Sohn.
»‹Shakespeare‹ lässt grüßen«, stammelte Sam, der in seiner Schulzeit viel über den Engländer lesen musste. Ja, auch beim Barden gab es sehr häufig monologische Erklärungsstränge.
»Sam, sie hat ein Recht sich Luft zu machen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang angelogen.«
»Ich weiß, Steve. Aber endlich ist die Katze aus dem Sack und wir brauchen nicht mehr geduckt durchs Leben gehen. Für mich war es auch nicht einfach. Manchmal musste ich mir auf die Zunge beißen, um es nicht versehentlich auszuplaudern«, gestand der jüngere.
»Nun müssen wir sehen, wie sie es wegsteckt.« Doch auch Steve fiel es nicht immer einfach, das Geheimnis zu wahren.
*
Nur noch einen letzten Abend mit Tom verbringen, mehr wollte sie nicht. Sie hatte Kopfschmerzen, ihr war noch immer schlecht und sie glaubte, alles um sie herum würde sich im Kreis drehen. Immer schneller, unaufhaltsam würde es aber irgendwann stehen bleiben und sie gegen eine Wand krachen lassen.
Es wurde alles gesagt und niemand hielt sie davon ab. Er war ihr Bruder und sie musste ihn kennen lernen. Sie legte eine CD ein, drehte aber den Regler leiser.
»Tom! Schön dich zu sehen!«
Er nickte.
»Komm Schwesterchen, lies mir aus dem Buch vor. Wir haben genug geredet! Jetzt will ich an nichts mehr denken,
außer an unsere Figuren.«
Lydia lächelte und holte den Roman wieder hervor.
»Wie willst du«, begann er nach einer Weile, »morgen ins Internat kommen? Fahrt ihr mit dem Auto?«
»Nein! Ich werde mich sehr früh losmachen. Ich möchte Stephen fragen, ob er mich zum Bahnhof fährt und dann war es das.«
»Kein Zurück mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Ich will auch nicht, dass mich jemand besuchen kommt. Ich warte lieber auf Briefe. Du schreibst mir doch, oder?«
»Na, klar.« Sie lächelte und las weiter. Ihr ging so viel im Kopf herum, sie musste ja auch noch packen und ... Sie las und las, betonte alles so, wie es sein sollte, und wollte sich am liebsten in dieser Geschichte verlieren. Nicht mehr herauskommen. Aber das war unmöglich. Die Realität lauerte hinter der Tür auf sie. Ihre Seifenblase wollte sie noch aufrechterhalten, zumindest für ein paar Stunden. Danach durfte sie wieder platzen.
»Schlaf gut, Bruderherz und vergiss mich nicht«, sagte sie, als sie sich gute Nacht wünschten. Leider verflogen ihre Kopfschmerzen nicht durch die frische Luft. Sie lag im Bett und starrte zur Decke:
*
»‹Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt,
Als Ausgestoßener weinend mich beklage,
Umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt,
Und ich verzweifelt fluche meinem Tage, -
Dann wär‹ ich gern wie andre hoffnungsreich,
So schön wie sie, bei Freunden beliebt,
An Kunst und hohem Ziele manchem gleich,
Freudlos mit dem, was mir das Schicksal gibt.
Veracht‹ ich mich beinah in den Gedanken,
so denk‹ ich dein, dann steigt mein Geist empor
Der Lerche gleich von trüber Erde Schranken
Und jauchzt im Frührot an des Himmels Tor.«
*
Sie atmete tief durch und flüsterte in die Dunkelheit hinein:
»Ach, Shakespeare sprach schon weise in seinen Sonetten.
Vielleicht passt ja auch irgendwann das letzte Stück von der 29 zu mir.
*
›In deiner Liebe fühl‹ ich mich so reich,
daß ich nicht tausche um ein Königreich!‹«
*
Lydia fühlte viel, nur nicht geliebt. Manchmal, wenn sie weder ein noch aus wusste, zitierte sie einfach irgendwas. Sie sprach dann mit sich selbst, damit sie ihre Gedanken wieder ordnen konnte. So war sie und in der Regel half ihr William Shakespeare wieder aus einer Sackgasse hinaus.
Und während sie vor sich hin murmelte verharrte Stephen eine Zeitlang vor ihrer Tür und hörte ihr aufmerksam zu. Denn, wie der Zufall es so wollte, war sie nicht gänzlich geschlossen.
Er wollte eintreten, ihr beistehen, doch ihm war bewusst, dass sie Zeit für sich brauchte.
Es war Sonntag und Lydia konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie hatte ihre Sachen gepackt. Auch Tom schlief nicht und immer, wenn er hinüberblickte, sah er noch Licht bei seiner Schwester brennen.
Irgendwann wusste Lydia, dass sie nun in die Küche gehen konnte.
»Hey«, flüstere Steve und schaute sie mit seinen großen, braunen Augen an.
»Morgen«, sagte sie und runzelte die Stirn, zog den Stuhl zurück und setzte sich. Ihr Blick fiel auf die Uhr hinter Steve und wunderte sich, warum er noch vor sieben Uhr wach war.
»Ich konnte nicht schlafen«, meinte er, als er ihren verunsicherten Blick wahrnahm.
»Ja, ich auch nicht. Ich hab meine Sachen gepackt.«
Lächelnd stand er auf und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. Er wusste, dass sie sehr früh aufstehen würde.
»Danke.« Die Tasse wärmte ihre kalten Hände und sie sog den Duft in sich auf. Kaffeeduft beruhigte sie.
»Ich versteh nicht, warum du nie etwas zu mir gesagt hast.«
Steve nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag.
»Hättest du es denn verstanden? Wenn wir es dir vor Jahren schon gesagt hätten, würdest du es dann so verstehen wie heute?«
»Aber ich kapiere es ja nicht«, sprach sie verzweifelt.
»Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Toms Familie schon früher hergezogen wäre. Vor Jahren wäre dir nicht das Herz gebrochen worden.«
»Mir wird schon wieder schlecht!«, murmelte sie in ihre Kaffeetasse.
»Weil ihr euch geküsst habt?« Sie sah ihn mit verkniffenen Augen an. Ihre Stimmen blieben die ganze Zeit gedämpft, da sie niemanden wecken wollten. Für beide war es wichtig, noch einmal etwas Zeit miteinander zu verbringen.
»Mach dir mal keine Gedanken darüber. Es ist nichts passiert.«
»Steve, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
»Alles, was du willst.«
»Würdest du mich zum Bahnhof bringen? Gegen 8 Uhr fährt ein Zug.«
»Du willst nicht, dass ich dich direkt hinfahre?«, fragte er sie.
»Nein!«
»Aber bis dahin werden die anderen noch schlafen.«
»Das ist ja meine Absicht. Du bist Frühaufsteher.«
Natürlich willigte er ein. Er würde um die halbe Welt reisen, um ihr zu helfen.
Sie verzog sich ins Bad, doch nach einer Weile kam Steve rein. Er wollte etwas mit ihr besprechen und hatte vollkommen vergessen, anzuklopfen, da er so in Gedanken war.
»Entschuldige!« Er schloss die Tür wieder und versank vor Scham im Boden. Kurz darauf wurde die Tür wieder geöffnet. Lydia hatte ihre Zahnbürste im Mund.
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