Auch wenn ich dich oft aufzog, aber du bist ein hübsches Mädchen. Nein, du bist eine schöne junge Frau geworden.
Mit Herz, Seele und voller Liebe,
Dein Steve.«
*
›Mit Herz, Seele und voller Liebe?‹
Lydia legte den Brief auf ihren Schoß und dachte an tausend Sachen. Ihr Kopf schwirrte und sie nahm sich erst mal den weiteren Inhalt des Briefes vor. ›Eine Kette?! Ui, die ist ja sehr schön‹, dachte sie erstaunt und entdeckte einen kleinen Zettel: »Ein Glücksbringer. Er soll dich immer an uns erinnern!«
Zudem befand sie ein Familienfoto mit Michael, Sam, Steve, Sascha und sie in diesem Umschlag. Es war erst letztes Weihnachten entstanden. ›Das waren noch Zeiten und dabei ist es noch nicht lange her.‹
Lydia spähte auf ihre Uhr. Noch drei Stunden, bis sie das erste Mal umsteigen musste. Sie saß im Nicht-Raucher-Bereich, der aber relativ leer war.
Sie überlegte, betrachte den Brief und kramte in ihrem Rucksack, holte einen Block und einen Kugelschreiber hervor.
*
»Steve, ich weiß ehrlich nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Soll ich:
›Hallo‹ schreiben? ›Mein Lieber‹? Ich weiß es nicht. Also werde ich einfach so tun, als wären wir mitten in einem Gespräch.
Ich hab dir noch ein wenig nachsehen können, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich habe dich noch nie so traurig gesehen!
Hast du eigentlich jemals geweint? Ich erinnere mich nicht.
Gut, manchmal bist du geknickt oder etwas deprimiert, aber geweint hast du nie oder nur sehr, sehr selten. Immer wieder nehme ich mir deinen Brief zur Hand, um nichts zu vergessen und um vielleicht selbst Klarheit zu bekommen.
Das Tom mein Bruder ist, wusstest du scheinbar selbst nicht und auch Sam hatte keine Ahnung.
Aber du wusstest schon immer, dass ich nicht deine Schwester bin. Es hat einige Stunden gedauert, bis es klick machte. Tom fiel es plötzlich auf.«
Sie schrieb und schrieb. Ließ einfach den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren und fügte hinzu:
»Wer hätte schon geahnt, dass wir Zwillinge sind. Ich meine, da zieht - rein zufällig, wie es aussieht - jemand in das Haus nebenan ein und du denkst dir: ›Ach, der sieht ja gut aus.‹ Aber natürlich war das nur ein Gedanke. Als er mich dann am Tag meiner Prüfung einholte und mit mir geredet hat, waren schon Funken zu sehen.
Anzunehmen, dass wir verwandt sind, anzunehmen, dass er mein Bruder ist, wäre absurd gewesen. Ich dachte ja nicht: ›Oh, ich guck ja gerade in einen Spiegel‹.
So etwas Absurdes überhaupt zu denken, ja gar in Erwägung zu ziehen, ist einfach lächerlich.
Wenn ich aber jetzt daran denke, wie ähnlich wir uns sind, ... es ist verrückt. Einfach nur lächerlich. Manchmal ist man geblendet von dem, was man sieht. Alles nur Schein.
Meine Gefühle haben in jenem Moment, als wir es erfuhren, so verrückt gespielt, dass ich Magenschmerzen bekam. Noch immer dreht sich alles.
Zeit, viel Zeit werde ich benötigen, um all das überhaupt zu verstehen und zu verarbeiten. Und ich hab absolut keine Ahnung, ob mein Brief überhaupt sinn ergibt. Denn ich kann keinen klaren Gedanken fassen.
Wenn ich an Thomas denke, muss ich lächeln. Mein
Zwillingsbruder! Er ist mir so ähnlich, so unglaublich ähnlich.
Wir beide lieben dieselbe Musik, haben eine Laktoseintoleranz, lieben Jane Austen Romane. Und während ich so darüber nachdenke, fällt mir etwas Lustiges auf: Thomas und Lydia sind beides Namen, die auch in den Romanen von Austen vorkommen. Du kennst mich, Steve. Ich versuche immer, etwas Positives zu finden.
Daher auch ein kleines Rätsel - nur für dich: Wenn du weißt, von welchen Charakteren ich rede, dann schreib mir. Vorher nicht. So viel Zeit muss sein. Wir brauchen alle Zeit, um uns wieder zu fangen und wieder das Leben zu führen, wie wir es kennen.
Aber du hast es ja gelernt, zu recherchieren und nach etwas zu suchen, was verborgen ist.
Ich gebe dir nur diesen Tipp: Beide bringen sowohl Leid als auch Glück mit. Wahrscheinlich haben Shannon und James nicht daran gedacht, aber unsere Namen kommen in den Romanen vor.
Mein lieber Steve, du warst immer mein bester Freund. Ich habe immer zu dir aufgeschaut. Ob ich es noch tue, weiß ich nicht. Du bist mein Vorbild, fünf Jahre älter und natürlich hast du das erreicht, was du dir erträumt hast.
Aber ob wir uns wieder sehen, ob wir uns jemals wieder in die Arme nehmen können, kann ich nicht sagen.
Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich 18 Jahre alt sein.
Wenn ich dann irgendwas studiere - und ich gehe mal davon aus, dass ich das werde - wirst du vielleicht verheiratet sein und eine Familie gründen. Und wenn ich daran denke, mich je wieder zu verlieben, wird mir ganz komisch.
Nein, ich werde jetzt eine tolle Schülerin. Ich will euch nicht enttäuschen.
Aber ob ihr mich dann überhaupt noch als Mitglied der Familie anseht, bezweifle ich. Vielleicht ist es auch gut so, wenn wir uns nicht mehr als Bruder und Schwester betrachten.
Vielleicht sollten wir das auch nicht mehr. Ich möchte dich als meinen besten Freund in Erinnerung behalten. Wir werden uns weiterhin Briefe schreiben und uns - hoffentlich - alles sagen, was wir fühlen und denken. Doch hast du mein Vertrauen verloren. Ich hätte die Wahrheit von dir erfahren müssen und nicht auf diese Weise!!
Es braucht Zeit, bis wir wieder diese Freundschaft aufbauen, die wir bis Donnerstag hatten oder sogar noch am Samstagmorgen.
Ich werde den Brief gleich abschicken, wenn ich einen Briefkasten finde. Das bin ich dir schuldig. Hab tausend Dank für die wunderschöne Kette und auch für das Foto. Seltsam, dass alles so schnell vorbei sein kann, oder?
Ich werde diesen Brief direkt an deine Adresse schicken.
Richte den anderen aus, dass ich erst einmal Abstand brauche.
Sag ihnen schöne Grüße und das ich in Gedanken bei ihnen bin.
Steve, denke immer daran: Ich bin für dich da. Mit meinen fast 16 Jahren kann ich zwar nicht die Welt verändern, aber ich kann zuhören und bin eine leidenschaftliche Leserin - die gerne viel Post bekommt und viel lesen will - und oft reicht das schon.
Es wäre nett, wenn du dich etwas um Tom kümmern könntest.
Wenn du ihn ab und zu anrufst oder ihn mal besuchst. Tust du mir diesen Gefallen?
Mit Herz, Seele und voller Zuversicht - dass wir unsere
Freundschaft nicht verlieren,
Deine Lydia.«
*
Damit beendete sie den Brief an Steve. Wusste aber nicht, ob sie das Richtige schrieb, viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht gehabt. Sie ließ einfach ihr Herz sprechen. Sie packte die beschriebenen Seiten in einen Umschlag, adressierte ihn und klebte eine Marke drauf.
Ironischerweise hatte sie noch einige Briefmarken in ihrem Portemonnaie, sie benötigte viele für Bewerbungen oder für Anfragen. Lydia legte den Brief beiseite und nahm ihren Stift erneut in die Hand:
*
»Hallo, Brüderchen!
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