Es ist schon recht merkwürdig, wie sich die Dinge entwickeln. Dabei kennen wir uns erst seit Freitag. Hatten uns am Donnerstag nur wenige Sekunden gesehen, und doch kommt es mir so vor, als würden wir uns schon ewig kennen.
Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dich auf dem Balkon das erste Mal sah. Irgendwie musst du intuitiv gespürt haben, dass wir zusammen gehören, sonst wärst du mir sicherlich nicht am Freitag nachgelaufen.
Dass uns etwas verbindet, haben wir früh gemerkt. Wir waren uns ähnlich. Haben das Gleiche gelesen, dasselbe gedacht und doch waren wir uns im Grunde fremd. Wer hätte schon ahnen können, dass du und ich, dass wir mehr sind als nur Seelenverwandte. Zwillinge! Zwillinge! Ich muss es mir zigmal sagen, damit ich es auch wirklich verstehen kann.
Unsere Eltern haben uns als Babys adoptiert. Während
Shannon und James so früh sterben mussten. Das ist ein so eigenartiges Gefühl. Als ich das hörte, tat mir alles weh.
Und doch hatten wir Glück. Wir kamen zu so liebe Menschen, die uns nie das Gefühl gaben, unerwünscht zu sein. Nie wäre ich auf so etwas gekommen. Adoptiert! Das ist ein so gigantisches Wort, so schwer, so unglaublich zu begreifen.
Wie kommst du damit zurecht? Hast du Halt gefunden? Hast du mit deiner Familie in Ruhe alles klären können? Hast du mehr erfahren als ich? Haben wir noch irgendwo Verwandte?
Ich denke nicht, sonst wären wir sicherlich nicht zu unseren Paten gekommen, oder? Was geht dir so durch den Kopf? Mir schwirrt meiner.
Für dich muss ebenso eine Welt zusammen gebrochen sein.
Alles, was wir dachten, steht auf dem Kopf.
Alles, was wir glaubten zu sein, war eine Lüge. Doch können wir niemanden Vorwürfe machen. Sie wollten uns beschützen und nur das Beste für uns.
Ich glaube, Shannon und James wollten nicht, dass wir noch einmal alleine da stehen, daher haben sie uns trennen lassen. Sie hatten womöglich Angst, dass Franziska oder Sascha etwas zustoßen könnte und somit beschlossen sie, uns zu trennen.
Vielleicht ja mit dem Vermerk, das wir eines Tages alles erfahren sollen und wer weiß, vielleicht sollte es noch vor unserem 16. Geburtstag sein ...?
Wenn wir uns nicht so gut verstanden hätten, müsste ich jetzt nicht weggehen(?). Es gibt noch vieles, was ich nicht verstehe, so viele offene Fragen. Und ich habe keine Chance mehr so richtig, sie beantwortet zu bekommen.
Ich wünsche mir, dass wir uns kennen lernen und Freunde werden. Nun muss ich lächeln. Der Freitag war doch einmalig, oder? So etwas erlebt zu haben, ist selten. So etwas zu empfinden, was wir empfanden, ist selten. Auch wenn ich gestern noch Scham verspürte, so ist jetzt daraus ein Gefühl der Wärme geworden. Es gibt nicht viele Menschen, die diese Erfahrung machen dürfen.
Ganz gleich, was Samstagnachmittag passierte, ganz gleich, welche Wahrheit uns so aus dem Gleichgewicht riss:
Wir haben für einen Moment etwas Tieferes empfunden.
Diesen Augenblick sollten wir in uns bewahren, als Erinnerung.
Wir wussten ja nicht, dass es falsch war. Ich meine, wir haben nichts gemacht, was wir je bereuen könnten. Wir sind Bruder und Schwester. Mehr nicht und doch hoffe ich, dass wir Freunde sein können.
›Der Kuss war falsch‹, wirst du jetzt sicherlich denken. Das mag sein, ja. Aber gestern, zehn nach halb neun Uhr in der Früh, war er das noch nicht. Und mehr wäre eh nicht passiert.
Wir wären nicht weiter gegangen. Niemand kann uns deshalb Vorwürfe machen. Wir wussten es nicht. Wir hatten keine Ahnung gehabt. Waren zwei junge Menschen, die für einen Augenblick Gefühle zuließen.
Wir werden den Kontakt halten, hoffe ich jedenfalls. Wir freunden uns an. Wir werden unseren Zwillingsinstinkt (falls es so etwas wirklich gibt) aktivieren und so fühlen, ob es dem anderen gut geht oder nicht. Für deine Zukunft und für deine Prüfungen wünsche ich dir alles Gute. Wo dich der Wind hinführt, weiß ich nicht, aber ich hoffe, du vergisst mich nicht und schreibst mir, so oft du willst. Ich hoffe, du lässt mich an deinen Gedanken teilhaben.
Ich hoffe, du vertraust mir deine Sorgen und Ängste, Wünsche und Hoffnungen an. Du findest irgendwann ein Mädchen, welche die Richtige für dich ist. Aber such dir nicht irgendeine, dafür ist das Herz zu kostbar. Pass auf dich auf, Thomas!
Du bist meine Familie. Es ist schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten. Aber vielleicht ist es das einzig Richtige. Abstand zu bekommen ist gut, denke ich. Wenn du nicht sofort antworten kannst, dann lass so viel Zeit vergehen, wie deine Wunden brauchen, um zu heilen. Ich bin für dich da, egal wann. Du kannst mit mir über alles sprechen! Ich bin in Gedanken bei dir.
Rede so oft es nur geht mit deiner Familie, denn nur so kannst du das alles Überwinden und uns als Geschwister akzeptieren.
Bleibe so, wie du bist, und achte auf dich, Deine Schwester!«
*
Sie verfasste noch einen kurzen Brief an Madlen, den sie mit in den Umschlag packte. Sie schrieb, wie leid es ihr täte, dass sie nicht die Ausbildung antreten könnte, und versuchte, es in wenigen Worten zu erklären.
Sie atmete tief durch, als sie daran dachte. Ihr Traum zerplatzte so schnell, dass sie wehmütig aus dem Fenster des Zuges blickte und für eine Weile einfach nur gedankenverloren in die Ferne schaute.
Als Lydia den Bahnhof erreichte, war noch etwas Zeit. Sie sah sich um und ging in Richtung ihres nächsten Gleises. Auf dem Weg entdeckte sie einen Laden und kaufte dort einen kleinen Teddy, der in den Umschlag passte, dazu eine tolle Geburtstagskarte.
Einen Briefkasten fand sie ebenfalls.
Sie schaute sich um, das Gepäck stand neben ihr und plötzlich fühlte sie sich so unglaublich einsam und verlassen, wie noch nie in ihrem Leben. Sie zitterte etwas, doch an diesem Ort konnte sie nicht zusammenbrechen. Dafür wäre noch genug Zeit.
Sie war alleine und das machte ihr Angst.
Das junge Mädchen war nun auf sich gestellt. Niemand würde ihr Halt geben und sie in ihre Zukunft begleiten.
Ihre Hand wanderte zu ihrer Kette und sie drückte den kleinen Anhänger so fest, dass sie einen Abdruck davon in ihrer Handfläche hatte.
›Ach Steve. Wenn ich nur wüsste, was ich machen soll. Was ich nun denken, fühlen und machen muss. Wie soll ich unbeschwert leben, wenn ich doch weiß, dass zu Hause alles im Chaos geendet hat. Aber vielleicht mache ich mich auch nur selber verrückt und in Wirklichkeit seid ihr alle erleichtert, dass die Wahrheit nun raus ist.
Wenn es nicht so wäre und Tom und ich hätten erst viel später erfahren, dass wir verwandt sind ... Oje, das wäre schrecklich geworden. Viele Dummheiten. Wir hätten uns verliebt. Nicht auszudenken, was wir angerichtet hätten. Auch wenn ich DAS noch nicht machen würde. Es war schon richtig, es uns zu sagen. Mich wegzuschicken war das einzig Sinnvolle‹, dachte Lydia.
Wie sollte sie das durchstehen?
Es ging ihr von Minute zu Minute schlechter. Alles was sie glaubte zu sein, war nichts mehr als Schein.
Nun begriff sie auch, weshalb sie manchmal solche Alpträume hatte oder warum sie alles bekam, was sie sich wünschte. Es war, als würde sie in ein tiefes Loch voller Erinnerungen fallen.
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